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Simpler Taschenspielertrick

Der Freispruch für die Sprint-Weltmeisterin Katrin Krabbe stürzte den internationalen Sport in ein Dilemma: Im Verfahren vor dem Rechtsausschuß des Leichtathletik-Verbandes wurden Beweise unterdrückt und falsche Tatsachen behauptet. Fieberhaft suchen Sportjuristen jetzt nach Möglichkeiten, das Urteil doch noch zu revidieren.
aus DER SPIEGEL 16/1992

Die Bestellung, die am 10. Februar um 12.27 Uhr per Fax in der Londoner Firma Envopak Group Limited einging, sah nach einem Routinevorgang aus, obwohl der Absender um umgehende Auftragsbestätigung und exakte Festlegung der Lieferzeit bat: »Wir brauchen es sehr dringend.«

Frans Stoele, der Manager des Niederländischen Zentrums für Doping-Angelegenheiten (NeCeDo), orderte für sein Institut 3000 Verpackungssiegel, Farbe rot, mit dem eingerahmten Firmenlogo und der laufenden Numerierung von 113 001 bis 114 000, 223 001 bis 224 000 und 333 001 bis 334 000. Die Londoner Firma, spezialisiert auf versiegelbare Verpackungsbehälter, belieferte den bekannten und autorisierten Kunden in den Niederlanden sofort.

Doch bereits sieben Tage nach der ersten Bestellung kam schon wieder ein Telefax aus Rotterdam. Der Auftraggeber dankte überschwenglich für die prompte Lieferung, doch seien die Siegel nicht so ausgefallen »wie erwartet«. Logo und Zahlen hätten schwarz statt weiß aufgedruckt werden sollen. NeCeDo orderte noch einmal 3000 Siegel.

Beinahe unterwürfig versicherte Stoele, auch die Falschlieferung bezahlen zu wollen. Um »ganz sicherzugehen«, fügte er eine Abbildung des Siegels bei, in die er die gewünschten Farben eintrug, und bat noch einmal nachdrücklich um Eile: NeCeDo wolle »seine Kontrolleure so gut wie möglich schulen«.

Am vorletzten Samstag tauchten Siegel mit den Nummern 223 916, 223 928 und 223 936 überraschend in Deutschland auf - als Entlastungsbeweis im Verfahren vor dem Rechtsausschuß des Deutschen Leichtathletik-Verbandes (DLV) gegen die der Doping-Manipulation beschuldigten Leichtathletinnen Katrin Krabbe, Grit Breuer und Silke Möller.

Als agiere er in einem drittklassigen Hollywood-Film vor den Schranken eines Geschworenengerichts, zog der Anwalt der Weltmeisterin, Reinhard Rauball, mit großer Geste die kleinen, roten Plastikverschlüsse aus der Jackentasche und lieferte die Bewertung gleich mit: »Ich habe soeben den Beweis angetreten, daß man Siegel mit den Original-Code-Nummern jederzeit einfach nachmachen kann.«

Es war nur die halbe Wahrheit: Rauball, 45, präsentierte keine nachgemachten, sondern echte Siegel. Der von ihm engagierte Gutachter, NeCeDo-Direktor Emil Vrijman, 29, hatte offensichtlich seine Position im holländischen Anti-Doping-Institut ausgenutzt, um über seinen Untergebenen Stoele und unter Vorspiegelung falscher Tatsachen auf offiziellem Briefpapier die Siegel legal zu bestellen.

Rauballs simpler Taschenspielertrick ("Die Siegel lagen plötzlich auf meinem Tisch") war wesentlicher Grund dafür, daß die größte deutsche Doping-Affäre auf unerwartete Weise beendet und die gesamte Sportrechtsprechung in Frage gestellt wurde: Krabbe, Möller und Breuer wurden wegen Form- und Verfahrensfehlern bei ihrer Doping-Kontrolle freigesprochen.

Eine bisher für undenkbar gehaltene große Koalition aus Athleten, Funktionären, Politikern und Sponsoren versucht jetzt, den Schaden zu begrenzen.

Denn der Spruch des ehrenamtlich tätigen Verbandsjuristen Günter Emig, 55, im Hauptberuf Fachmann für Flurbereinigung im rheinland-pfälzischen Landwirtschaftsministerium, hat ungeahnte Weiterungen. Bleibt Emigs Spruch bestehen, hält künftig kein Doping-Test einer juristischen Überprüfung stand. Ignoriert aber, was viele Experten erwarten, der Leichtathletik-Weltverband (IAAF) den nach handfester Beweisunterdrückung zustande gekommenen Freispruch, ist eine Diskussion um Legitimation und Grenzen der Sportgerichtsbarkeit unausweichlich.

Den Wandel des internationalen Spitzensports vom reinen Wettkampfvergnügen zu einem weltweit boomenden Unterhaltungsbetrieb haben nicht alle Institutionen mitgemacht. Wo Mediziner, Trainer und Athleten nach modernsten wissenschaftlichen Erkenntnissen arbeiten, handeln die Rechtsorgane der Sportverbände nach überkommenen Statuten, die dann auch noch häufig von überforderten Freizeitjuristen angewandt werden.

Ein vor zwei Jahren abgeschlossenes Forschungsprojekt des Instituts für Internationales Recht der Universität München ergab, »daß manche Regelung in Sportsatzungen mit rechtsstaatlichen Prinzipien nicht zu vereinbaren ist«. Angesichts einer fehlenden »wasserdichten rechtlichen Basis«, sagt Professor Christoph Vedder, einer der Projektleiter, müßte die entscheidende Instanz mit unabhängigen und qualifizierten Juristen besetzt sein, die »mit Fingerspitzengefühl den ganzen Fundus der rechten Möglichkeiten nutzen«.

Bei internationalen Streitfällen - vom Doping-Fall der Schweizer Langläuferin Sandra Gasser bis hin zum Bootskrieg der America''s-Cup-Segler - korrigierten immer wieder ordentliche Gerichte die Verbandsrechtsprechung. Vermutlich zieht der Frankfurter Fußball-Profi Andreas Möller, den der Fußball-Weltverband nach Vertragsstreitigkeiten Juventus Turin zusprach, als nächster prominenter Sportler gegen seinen Verband vor ein Zivilgericht.

Noch nie aber wurde die Überforderung eines Verbandsrichters so klar wie im Fall Krabbe. Als Emig bei Rauballs Präsentation der Siegel zaghaft fragte, woher die Siegel stammten, beschied ihn Rauball: »Das spielt hier keine Rolle.« Und als Emig bemerkte, daß die Farbe nicht mit den erbrochenen Original-Siegeln übereinstimmte, sagte der Krabbe-Anwalt kurz: »Darauf kommt es gar nicht an.«

Hilflos gegenüber Rauballs rhetorischem Geschick suchte der Landesbeamte Emig sein Heil bei einem in Verwaltungsstreitigkeiten gängigen Motto: Ein Verfahrensfehler macht die unbequeme Erörterung des Sachverhalts überflüssig.

So folgte Emig in seiner Urteilsbegründung willig der Rauballschen Verteidigungsstrategie: *___Er vermißte »die Rechtsgrundlage für die Probe von ____südafrikanischen Kontrolleuren« - sie ist eindeutig in ____den Statuten des Weltverbandes zu finden. *___Im Kontrollraum habe sich »eine unbefugte Person ____befunden« - es war Conny Springstein, die Ehefrau des ____Krabbe-Trainers. *___Ein »Ersetzen der Siegel« sei problemlos möglich ____gewesen - die Ersatzbeschaffung dauerte jedoch sechs ____Wochen, die Proben aber waren nur knapp 100 Stunden ____unterwegs. *___Die Tasche, in der die versiegelten Proben ____transportiert wurden, sei selbst nicht versiegelt ____gewesen - das verlangen die DLV-Vorschriften auch gar ____nicht. *___Im Labor seien die Proben von einer »untergeordneten ____Hilfskraft« geöffnet worden - die Öffnung der B-Probe ____aber, die mit der A-Probe absolut übereinstimmte, ____beobachteten zwei Wissenschaftler und zwei Juristen.

Entsprechend seinem selbsterteilten Auftrag ("Die Suche nach einem Vergleich entspricht dem Geist des Sports") verhinderte Emig zusammen mit Rauball, daß der Kölner Doping-Analytiker Professor Manfred Donike seine Beweiskette für eine Manipulation durch _(* Grit Breuer, Katrin Krabbe, Silke ) _(Möller, Manuela Derr beim Training in ) _(Neubrandenburg. ) die Athletinnen selbst (siehe Seite 278) vortragen durfte. Auch ließ er die Befragung eines Gynäkologen über die Täuschungsmöglichkeiten mittels in der Vagina versteckter Plastiksäckchen nicht zu.

Das durch das Urteil offenkundige Dilemma, nun einen falschen Spruch revidieren zu müssen, haben sich die Funktionäre selbst zuzuschreiben. Emigs Rechtsausschuß ist erste und letzte Instanz zur Überprüfung von DLV-Verbandsbeschlüssen - ein Verfahren, das den rechtsstaatlichen Mindestanforderungen in keiner Weise genügt.

Eilig versucht der Deutsche Sportbund (DSB) jetzt, den Instanzenmangel zu heilen. Am letzten Freitag beschloß das DSB-Präsidium, eine Sondersitzung einzuberufen, die über die Einrichtung eines unabhängigen Schiedsgerichts für alle Verbände beraten soll.

Die Urteilsschelte der internationalen Medien reichte von »Possenspiel« (Gazzetta dello Sport) bis hin zu »Fiasko« (Neue Zürcher Zeitung). Die Pariser Sportzeitung L''Equipe urteilte gar: »Eine Ohrfeige für alle, die dafür kämpfen, daß der Sport von der Perversion des Doping befreit wird.«

Politiker wie Innenminister Rudolf Seiters forderten zu »rechtlichen Konsequenzen« auf. Und Wilhelm Schmidt, der Sportpolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, sah bereits den »amateurhaft geführten und organisierten Spitzensport am Ende«.

Die anhaltenden Negativschlagzeilen haben auch die Sponsoren weiter verschreckt. Der Computer-Riese IBM diskutierte in der vergangenen Woche sein gesamtes Konzept zur Sportförderung, stellte sogar sein Engagement bei der Leichtathletik-Weltmeisterschaft 1993 in Stuttgart in Frage. Der Präsident des Deutschen Kommunikationsverbandes, Werner Ludwig, wertet den merklichen Rückzug der Industrie aus dem Sponsoring »als deutliches Alarmzeichen für die Spitzenorganisationen des Sports«.

Trotz ständig intensivierter Doping-Kontrollen - in diesem Jahr werden allein 5000 Trainingstest mit einem Kostenaufwand von rund 1,5 Millionen Mark angestrebt - konnte der Imageverfall nicht gestoppt werden: Der Hochleistungssport steht sogar noch schlechter da als unmittelbar nach der Aufdeckung der deutschen Doping-Praktiken vor zwei Jahren.

Das Emig-Urteil hat auch die Gräben zwischen den Athleten neu aufgerissen. Diejenigen, die vehement für einen dopingfreien Leistungssport streiten, verlangen noch lauter nach effizienten, juristisch unanfechtbaren Kontrollen.

Immer wieder fallen die Prüfer durch Nachlässigkeiten bei den Tests auf: Mal haben die Proben zu lange in der Sonne gestanden, mal waren sie über eine Woche unterwegs (eine Krabbe-Probe beispielsweise neun Tage), ehe sie im Labor ankamen. Und hartnäckig vermuten westdeutsche Sportler, die Kontrolleure der ostdeutschen TÜV-Tochter »German Control« würden in den neuen Bundesländern bewußt schlampig arbeiten.

Notfalls, forderte Hochspringer Dietmar Mögenburg, müßten verdächtige Kollegen »durch Privatdetektive« beschattet werden.

Andere, wie die Leichtathletik-Aktivensprecherin Gabi Lesch und die Hochsprung-Weltmeisterin Heike Henkel, schlossen sich am vergangenen Freitag zu einer Schutzorganisation zusammen, die mit Hilfe eines Anwalts verhindern soll, daß die sauberen Athleten in den Medien weiterhin mit Doping-Sündern »in einen Topf geworfen werden«.

Der Mut, jetzt vor ordentliche Gerichte zu ziehen, kommt nicht von ungefähr. Wann immer sich in den letzten Monaten Zivilgerichte mit Doping-Vergehen beschäftigten, wurden die Sachverhalte klarer: Viele Freisprüche durch die Verbandsorgane wurden durch Verurteilungen im Gerichtssaal wertlos.

In Bochum, Dortmund, Berlin, Dresden und Leipzig laufen noch Strafermittlungen durch die Staatsanwaltschaft gegen Trainer, Ärzte und Funktionäre wegen Mittäterschaft im Doping-Sumpf. Der ehemalige Diskus-Bundestrainer Karlheinz Steinmetz und der ehemalige Kugelstoß-Meister Kalman Konya müssen Anklagen wegen uneidlicher Falschaussagen vor Richtern oder Ermittlungsbehörden fürchten.

Die Verärgerung einiger Athleten über den Freispruch ist für Katrin Krabbe unbegreiflich. Als am Freitag auch die IAAF die internationale Startberechtigung vorläufig bestätigte, war sie sich »sicher, daß alle ehrlichen Leichtathleten jetzt aufatmen werden«.

Doch Krabbes Freiheit, zu laufen, wo und gegen wen sie will, ist zeitlich begrenzt. Die IAAF ist offensichtlich entschlossen, die in Deutschland freigesprochenen Läuferinnen durch einen Beschluß des Verbandsrates international zu sperren, um die Vorwürfe dann durch das unabhängige Schiedsgericht des Weltverbandes überprüfen zu lassen. Das Gremium, in dem auch der Münchner Professor Vedder mitwirkt, wurde am letzten Freitag bereits einberufen.

* Grit Breuer, Katrin Krabbe, Silke Möller, Manuela Derr beimTraining in Neubrandenburg.

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