
Bizarres Schachduell Angriff auf das angebliche Alien-Opfer
Der Mann, den sie auch "Boa Constrictor" nannten, eine Würgeschlange am Schachbrett, steht vor seinem vielleicht schwersten Duell. Als der Russe Anatolij Karpow, Schachgroßmeister und Legende seines Sports, an diesem Freitag im Maritim-Hotel Berlin vor die Presse trat, suchte er die Unterstützung der Weltöffentlichkeit in seinem Kampf. Zusammen mit Robert von Weizsäcker, Präsident des Deutschen Schachbundes, und seinem ehemaligen Konkurrenten Garry Kasparow rührt Karpow die Werbetrommel. Denn die Troika schickt sich an, die internationale Schachszene zu dominieren.
Karpow, der vor 25 Jahren als Weltmeister entthront wurde, kämpft um den Vorsitz des Weltschachverbands Fide. "Der Wahlkampf wird hart, aber wir haben die besseren Argumente", sagte von Weizsäcker, der selbst auf die Spitze der Europäischen Schachunion spekuliert.
Doch Karpow hat nur Außenseiterchancen, er ist jetzt der Herausforderer. Bei der Wahl zum Vorsitz des Weltschachbundes, die im September in der sibirischen Ölstadt Chanty-Mansijsk stattfinden soll, gilt Amtsinhaber Kirsan Iljumschinow, 48, als Favorit. Er ist seit 1995 Fide-Chef und außerdem Präsident der russischen Teilrepublik Kalmückien. Er hat die Unterstützung des Kreml und, wer weiß, vielleicht gar von Kräften, die nicht von dieser Welt sind.
Der russische Regionalfürst, der Moskaus asiatischen Sprengel am kaspischen Meer seit fast zwei Jahrzehnten regiert, bekannte jüngst im russischen Staatsfernsehen und zur besten Sendezeit, er sei 1998 von Außerirdischen entführt worden. "Oft werde ich gefragt, in welcher Sprache ich mich mit ihnen unterhielt", sagte Iljumschinow. "Vermutlich telepathisch, es war ja nicht genügend Sauerstoff vorhanden." Die Humanoiden in ihren gelben Raumanzügen nahmen Moskaus Statthalter nach dessen Angaben mit auf eine Reise, entnahmen "Proben aus fremden Planeten" - und brachten ihren Gast dann flugs zurück, rechtzeitig noch zum Frühstück. Jetzt glaubt er fest an ihre Rückkehr. Der Tag werde kommen, an dem sie alle Erdlinge "in Raumschiffe stecken und fortschaffen", sagt Iljumschinow.
Topalow behauptete, sein Kontrahent betrüge
Bis es allerdings soweit ist, will er sich noch dem Schachsport widmen. So beglückte der Politiker seine Hauptstadt Elista und die Bevölkerung der bettelarmen Provinz nicht nur mit der Austragung der Schacholympiade 1998, sondern auch mit einem weitläufigen Gebäudekomplex namens "Chess City" - "Schachstadt".
Internationale Schachgrößen sind ihres exzentrischen Präsidenten trotzdem überdrüssig. Schon 2006 hatte Iljumschinow den Sport in seine größte Krise geführt. Beim WM-Finale in Elista kam es zum offenen Eklat. Beim Stand von 3:1 für den Russen Wladimir Kramnik behauptete der Bulgare Weselin Topalow plötzlich, sein Kontrahent betrüge. "Seltsam, wenn nicht verdächtig" sei, dass Kramnik in der dritten Partie zwischen Zug 15 und 16 binnen 13 Minuten dreimal auf seine Privattoilette marschiert sei, um 15.55 Uhr, 15.57 Uhr und um 16.03 Uhr.
In den Tagen darauf wurden WC-Räume geschlossen. Kramnik trat zur nächsten Partie gar nicht mehr an.
Karpow sagt, er wolle als Fide-Chef "das Schachspiel retten". Zu ihren besten Zeiten habe die Sportart "in der Beliebtheit Basketball, Hockey und sogar Tennis noch übertroffen", zum Beispiel als Bobby Fischer gegen Boris Spasskij spielte, "oder ich gegen Kasparow".
Karpows Erfolg sollte die intellektuelle Überlegenheit demonstrieren
Freilich war der Wettstreit der Schachgrößen auch damals schon nicht frei von Manipulationen. 1978 war es der sowjetische Geheimdienst, der Karpow half, den Weltmeistertitel zu verteidigen. Ein hochrangiger Offizier verriet vor kurzem, dass der KGB in einer Kommandooperation Karpow bei dessen knappem Triumph gegen Wiktor Kortschnoi auf den Philippinen unterstützt hat. Der Geheimdienst habe in Moskau eine Gruppe der besten Schachspieler des Staates versammelt, um Karpow zuzuarbeiten. "Durch unsere Kommunikationskanäle analysierten sie die unterbrochenen Partien", sagte Wiktor Litwinow, Oberst im Ruhestand. Dann hätten sie Karpow mit Tipps versorgt.
Sein Erfolg sollte die intellektuelle Überlegenheit des Kommunismus demonstrieren. Das WM-Duell fand in einem politisch aufgeheizten Klima statt: Kortschnoi, der 1976 aus der Sowjetunion geflüchtet war, machte Karpow für die Verhältnisse in der UdSSR mitverantwortlich. KGB-Oberst Litwinow hatte einst auch Kontakte zu Karpows größtem Konkurrenten Kasparow gepflegt.
Heute haben sich die Rivalen von einst verbündet, Kasparow und Karpow kämpfen Seit an Seit gegen den angeblichen Alienfreund aus der kalmückischen Steppe. Iljumschinow regiere die Fide "genauso autoritär wie seine mittellose Republik", hat Kasparow schon vor Jahren festgestellt. Seriöse Sponsoren wollten mit Iljumschinow und seiner Organisation nichts zu tun haben.
"Großer Schachspieler, aber kein effektiver Manager"
Die großen Schachverbände unterstützen die Rebellen, allen voran die Schweiz, Frankreich, die USA und Deutschland. Russlands Schachföderation ist gespalten. 17 von 32 stimmberechtigten Delegierten stimmten vor einer Woche für Karpow - obwohl der Interimschef der Föderation zuvor schon Amtsinhaber Iljumschinow den Rücken gestärkt hatte. Arkadij Dworkowitsch, 38, Sohn eines bekannten Schachschiedsrichters und als enger Vertrauter von Präsident Dmitrij Medwedew vom Kreml zum Schachkurator bestellt, erklärte das Votum der Meuterer prompt für nichtig. Bei aller Verehrung für den "großen Schachspieler" sei Karpow jedoch "kein effektiver Manager, im Unterschied zu Kirsan Iljumschinow".
In der Tat brüstet sich Kalmückiens Staatschef gern damit, "50 Millionen Dollar" aus seinem Privatvermögen und dem von Freunden in die Belebung des Schachsports gepumpt zu haben. Rätselhaft bleibt gleichwohl die Herkunft der Gelder, verzeichnete Iljumschinow doch laut offizieller Deklaration im gesamten Jahr 2009 Einnahmen in Höhe von lediglich 800.000 Rubel.
Der renommierten Moskauer Wirtschaftszeitung "Kommersant" zufolge erhielt der spätere Republikchef 1992 einen 14 Milliarden Rubel schweren Kredit der russischen Regierung für den Ankauf von Wolle. Im Jahr darauf erklärte die Staatsanwaltschaft, 9,4 Milliarden des Kredits seien unterschlagen worden und eröffnete ein Strafverfahren. 1999, nachdem ein Zeuge unerwartet verstorben war und ein weiterer plötzlich die Aussage verweigerte, wurden die Akten geschlossen. Die Schuldigen wurden nie gefunden.
Ernsthaft um seinen Posten zu sorgen scheint sich der Fide-Chef derzeit allerdings nicht. Er werde "in jedem Falle die Wahlen gewinnen", sagt Berater Berik Balgabajew siegesgewiss. Karpow könne ungeachtet seiner Popularität "nicht auf mehr als 30 von 170 Stimmen zählen". Vor allem die Verbände aus Afrika, Asien und Südamerika unterstützten den Amtsinhaber.
Siegt Iljumschinow auch diesmal, könnte er bis 2014 am Ruder bleiben. Dann hätte der Mann aus Russlands tiefster Provinz, der es in seiner aktiven Karriere nur zum Titel des kalmückischen Meisters brachte, den Weltschachverband fast zwei Jahrzehnte dominiert.
Immer voraus gesetzt, seine außerirdischen Bekannten kehren nicht vorher zurück und nehmen ihn mit auf eine ausgedehntere kosmische Reise.