Wada-Chefermittler zu Doping in Russland "Das Problem ist: Wir haben keine positiven Proben"

Rund 300 russische Athleten stehen unter Dopingverdacht. Warum das Betrugssystem es so schwierig macht, Sportler zu überführen, erklärt der deutsche Chefermittler der Welt-Anti-Doping-Agentur, Günter Younger.
Dopingproben in einem Labor in Quebec

Dopingproben in einem Labor in Quebec

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Christinne Muschi/ REUTERS

Seit Januar liegen der Welt-Anti-Doping-Agentur (Wada) Daten aus dem Moskauer Kontrolllabor vor, in dem positive Dopingproben russischer Sportler über Jahre systematisch vertuscht worden sein sollen. Im April stellte die Wada darüber hinaus 2264 Proben sicher.

Die Ermittlungen der Agentur leitet Günter Younger, der der Abteilung "Intelligence & Investigations" vorsteht.

Zur Person
Foto: Denis Balibouse/ REUTERS

Günter Younger ist seit 2016 Chefermittler der Wada, vorher war er Chef der Cyberkriminalitäts-Abteilung des LKA Bayern.

SPIEGEL ONLINE: Herr Younger, vergangene Woche gab die Wada bekannt, dass 298 Athleten aus Russland unter Dopingverdacht stehen. Wann werden die Sportler gesperrt?

Younger: Es ist zu früh, um sicher sagen zu können, wann und wie viele Sportler sanktioniert werden. Wir reden von Verdächtigen, nicht von Überführten.

SPIEGEL ONLINE: Wie stichhaltig sind die Beweise?

Younger: Das Problem ist: Wir haben keine positiven Dopingproben.

SPIEGEL ONLINE: Sondern?

Younger: Eine Vielzahl von Indizien. Es ist wie bei der Polizei: Wir haben Verdachtsmomente, jetzt wird ermittelt. Zu erwarten, dass alle Verdächtigen am Ende überführt werden, ist unrealistisch.

SPIEGEL ONLINE: Welche Indizien haben Sie?

Younger: Um das zu verstehen, muss man sich die Systematik des Moskauer Kontrolllabors unter der Leitung von Gregori Rodchenkov vor Augen führen.

SPIEGEL ONLINE: Rodchenkov stand der Einrichtung in den Jahren der Manipulationen vor, bevor er aus Russland floh und zum Kronzeugen wurde.

Younger: Kam eine Probe eines russischen Athleten in seinem Labor an, war für ihn nur wichtig, ob sie möglicherweise eine verbotene Substanz enthält und eine Analyse somit zu einem positiven Dopingtest führen würde. Deshalb wurden meist nach einem ersten Screening, bei dem generelle Unregelmäßigkeiten bei einer Probe festgestellt werden können, Maßnahmen eingeleitet, um den Athleten zu schützen.

SPIEGEL ONLINE: Die Probe wurde also als negativ deklariert, auch wenn sie auffällig war.

Younger: Richtig. Deshalb haben wir dazu keinen einzigen positiven Dopingbefund.

SPIEGEL ONLINE: Wie wissen Sie dann, welche Proben manipuliert wurden?

Younger: Rodchenkov musste ja trotzdem nachvollziehen, welche Substanz in einer Probe enthalten war. Ansonsten wäre er in Bedrängnis gekommen, hätte die Wada einzelne Proben zur Nachprüfung bei ihm angefordert. Das wurde dokumentiert und findet sich in der so genannten LIMS-Datenbank wieder, die wir aus Moskau extrahiert haben. Wir haben nun aber auch die Rohdaten von den ersten Analysen. Jedoch wäre das normalerweise noch kein positiver Fall. Wir sind aber zuversichtlich, dass diese Daten ausreichen, um einzelne Athleten zu überführen.

SPIEGEL ONLINE: Wie sicher sind Sie sich, dass die Daten und Proben nicht gefälscht sind?

Younger: Wir haben den Vorteil, dass wir verschiedene Quellen heranziehen können, um zu prüfen, ob die Daten konsistent sind. Ein Beispiel: Wenn wir wissen, an welchem Datum eine Probe im Labor analysiert wurde, müsste dies eigentlich auch in Adams (Anti-Doping Administration and Management System - eine Wada-Datenbank, in der Testergebnisse von Sportlern eingepflegt werden, Red.) nachvollzogen werden können. Ist dem nicht so, ist das für uns ein Anhaltspunkt dafür, dass wir in dem Fall genauer draufschauen sollten. Darüber hinaus haben wir die Berichte von Richard McLaren…...

SPIEGEL ONLINE: ...der 2016 als unabhängiger Ermittler systematisches Doping in Russland feststellte.

Younger: Zu seinen Dokumenten gehörten auch E-Mails von Rodchenkov und anderen Beteiligten, in denen teilweise auf einzelne Proben eingegangen wurde. So wird jedes einzelne Datum, das wir haben, auf Echtheit überprüft. Wir sind da nicht blauäugig. Auch, weil wir ungern eine Bauchlandung erleben wollen, sollten die Fälle vor Gericht landen.

SPIEGEL ONLINE: Für wie stichfest halten Sie denn die Indizien bei den 298 Verdächtigen?

Younger: Wir haben einen Kriterienkatalog aufgestellt, anhand dessen wir ausgesiebt haben. Die 298 sind die mit den aus unserer Sicht stärksten Verdachtsmomenten. Nun sind wir dabei, die Fälle einzeln Laborexperten vorzulegen, die dann die Rohdaten überprüfen. Bekräftigen diese den Verdacht, geben wir unsere gesammelten Erkenntnisse an die Sportverbände weiter, die dann prüfen müssen, ob ihnen die Indizien ausreichen, um einen Dopingfall zu konstituieren.

SPIEGEL ONLINE: Sie haben mittlerweile 43 solcher Indizienpakete an die Verbände weitergereicht. Was machen Sie, wenn die Verbände abwinken?

Younger: Dann müssen wir sehen, ob wir vor den (Sportgerichtshof, Red.) Cas ziehen und schauen, wie weit wir kommen. Wenn das Gericht aber beispielsweise nach dem 20. Fall sagt, ab sofort reichen die Indizien nicht mehr aus, um einen positiven Fall zu haben, müssen wir die anderen gar nicht mehr weiterbearbeiten. Es ist ein sehr schwieriger Prozess. Aber auch wenn ein Fall nicht zu einer Sperre führt: Die Informationen werden ja trotzdem an den Verband weitergegeben. Falls der Athlet also heute noch aktiv ist, könnten zum Beispiel spezielle Testprogramme aufgestellt werden, um den Sportler in Zukunft genauer zu kontrollieren.

SPIEGEL ONLINE: Das Eingeständnis der Wada, die Sperre gegen die russische Antidopingagentur Rusada im September 2018 unter Vorbehalt aufzuheben, wurde international heftig kritisiert. Erwarten Sie nun den nächsten Shitstorm, sollten die Pakete, die Sie zusammengestellt haben, nicht ausreichen, um Sanktionen gegen Athleten zu begründen?

Younger: Zunächst einmal fand ich die Entscheidung des Wada-Exekutivkomitees im letzten Jahr sehr mutig, denn sie fußte auf der Frage: Was macht Sinn? Und für uns als Ermittler hat es Sinn gemacht, an die Daten heranzukommen. Das macht mein Leben gerade um ein Vielfaches einfacher. Ich bin sehr zuversichtlich, dass wir jetzt sehen können, was wirklich gelaufen ist. Von daher weiß ich nicht, ob ein Shitstorm kommt, sollten wir von Gerichten abgewiesen werden.

SPIEGEL ONLINE: Die Wada wäre dann aber damit gescheitert, den russischen Dopingskandal vollends aufzuklären.

Younger: Unsere Aufgabe ist nicht mehr zu schauen, ob es ein System gab - das ist bewiesen. Jetzt geht es nur noch darum, die einzelnen Athleten herauszufinden, die nachweislich gedopt haben. Es ist aber wichtig, dass bei allen Emotionen die Rechtsstaatlichkeit gewahrt bleibt. Wir sollten nicht aus politischen Gründen anfangen, Athleten pauschal zu verdammen. Schließlich sollten wir nicht vergessen: Das System wurde von russischen Whistleblowern zu Fall gebracht, nicht von der Wada, McLaren oder meiner Person.

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