Doping-Kritik "Moral ist das Opium des Sports"
Zwei frühere dänische Radprofis haben den Gebrauch von Dopingmitteln zugegeben - angeblich nur zu Zeiten, als diese noch nicht verboten waren. Gegen die frühere Straßen-Radweltmeisterin Ainajda Stahurskaja wird wegen Dopingsverdachts ermittelt. Ein US-Gericht hat entschieden, dass ältere Dopingproben in Verfahren gegen Stars der Baseball-Liga verwendet werden dürfen. Eine anonymisierte Umfrage unter 586 deutschen Leistungssportlern in olympischen Disziplinen hat ergeben, dass mindestens ein Viertel von ihnen während ihrer Laufbahn gedopt haben, die Autoren der Studie rechnen die Zahl durch zusätzliche Informationen sogar auf fast die Hälfte der Beteiligten hoch.
Das sind nur einige Meldungen, die eines belegen: Doping ist im Sport allgegenwärtig. Genauso wie die Aufregung, wenn mal wieder ein Top-Athlet erwischt worden ist. Unmittelbar nach der diesjährigen Tour de France gerade war der positive Dopingtest von Floyd Landis bekannt geworden bat ich den Berliner Sportsoziologen Eugen König um ein Interview. König hat sich seit vielen Jahren wissenschaftlich mit dem Thema Doping beschäftigt. Ich erhoffte mir von ihm inmitten der sich hysterisch überschlagenden Debatten um den gefallenen deutschen Radstar Jan Ullrich und die Verderbtheit seiner Sportart ein wenig Klarheit eine distanzierte und nüchterne Einschätzung dessen, was die neuesten Ereignisse für den Sport als Ganzen bedeuten.
Doch Herr König hatte keine Lust sich einzumischen: "Ich habe mich entschlossen", ließ er freundlich wissen, "zu der geradezu inflationären sportapokalyptischen Rede über Doping, die zumeist von distanzloser, moralistischer und moralisierender Betroffenheit gespeist ist, und der ich daher zutiefst mißtraue, gegenwärtig nicht noch ein weiteres Statement hinzuzufügen."
Die selbstgerechte Moralisierung des Dopingproblems
Das war auch nicht nötig. Denn was König bereits vor Jahren in seinem Aufsatz "Kritik des Dopings" geschrieben hatte, reichte aus, um alle Empörung, die 2006 rund um Athleten wie Ullrich, Landis, die österreichischen Skilangläufer und Biathleten oder den US-Sprinter Justin Gatlin aufflackerte, zu ersticken. Der Soziologe regt sich schon lange leidenschaftlich über das Gerede vom Doping als "Pestbeule", als "Seuche", als "Krebsgeschwür" und vom Dopingphänomen als "Sumpf" auf. Genau das war auch 2006 wieder das Vokabular, in dem Dopingfälle verhandelt wurden.
Es handelt sich dabei um eine selbstgerechte Moralisierung des Dopingproblems, die mit der eher mittelalterlich anmutenden Titulierung der Deliquenten als "Sünder" auf die Spitze getrieben wird. Das Dopingproblem zum Problem ruchloser Einzelner zu machen, dient laut König jedoch nur einem Zweck: Nämlich eine wirklich grundsätzliche Diskussion über den modernen Sport zu vermeiden und somit über die Prozesse, die das Dopingphänomen hervorbringen nachzudenken. "Moral", so König, "ist das Opium des Sports."
Eine "Rhetorik der Hygiene", wie nicht nur König, sondern die meisten seiner Kollegen das Moralisieren des Dopingproblems nennen, tut so, als gebe es einen "sauberen, guten Sport", den es vor dem "Übel des Doping" zu retten und zu befreien gilt. Dem halten die Gesellschaftswissenschaftler entgegen, dass Doping in einem Leistungssport, in dem es um viel Geld und um Existenzen geht und in dem es das Ziel ist, physiologische Grenzen immer weiter zu verschieben und in dem alle Mittel der Technik und der Wissenschaft Recht sind, vollkommen logisch ist. "Wer über Doping redet", so König, "darf vom Sport nicht schweigen."
Die Aufregung um Ullrich ist schwer nachzuvollziehen
Die Grenze zwischen Höhentraining und Epo-Nutzung, die Grenze zwischen kompliziert berechneten Be- und Entlastungsphasen und dem Gebrauch eines Testosteronpflasters ist ein schmaler Grat. Es ist eine künstliche Grenze, eine, die in sich stetig wandelnden Dopingreglements immer wieder neu verhandelt werden muss. Ganz gewiss ist es jedoch keine ausreichende Demarkationslinie zwischen einem "natürlichen" Sport, in dem sich Athleten wie Gott sie geschaffen hat gegenüber treten, und einem dekadenten Robotersport dort.
Deshalb ist der Grad der Aufregung etwa um Ullrich oder Gatlin auch nur schwer nachzuvollziehen. Sicher verstösst derjenige, der dopt, per Definition gegen Regeln und muss deshalb im Rahmen dieser Regeln bestraft werden. Aber er wird deshalb nicht von einem Tag zum anderen zu einem Dämon, zu einem kriminellen Finsterling, während er am Tag vorher noch ein tugendhafter Held war. Er war vorher eine hochgetunte Hochleistungsmaschine und ein täglicher Spektakellieferant. Und ist es nachher noch immer. Er hat sich weder vom menschlichen Sympathen zum Monster gewandelt noch vom ritterlichen Streiter zum hinterhältigen Fiesling. Er hat nur eine Regel gebrochen.
Die Bigotterie der inflationären Moralisiererei registriert die Szene sehr sensibel, auch wenn sie selten vermag, dies zu artikulieren. Der T-Mobile-Teamchef Olaf Ludwig etwa, selbst ehemaliger Radprofi, zögerte bei der diesjährigen Tour merklich, in die neue Redeweise seines Arbeitgebers, des T-mobile Konzerns einzustimmen. Die plötzliche Saubermann-Politik - nicht weniger als eine Kapitulation der T-Mobile-Vermarkter gegenüber der in den Medien vorherrschenden Entrüstung - verdutzte Ludwig merklich und er wand sich spürbar. Das kostete ihn allerdings letztlich den Job.
Nicht nur Ludwig fehlt offenbar die öffentlich geforderte Einsicht in Sachen Schuld und Sühne. Der Sportmediziner Georges Mouthon, der vor fünf Jahren von einem belgischen Gericht wegen illegaler Medikamentenabgabe verurteilt worden war, formulierte seine Kritik an der Moralisierung der Dopindebatte in einem Gespräch mit SPIEGEL ONLINE so: "Für mich als Mediziner ist es nicht unmoralisch zu dopen. Für mich ist es unmoralisch, den Sportlern nicht dabei zu helfen, diese unmenschlichen Belastungen auszuhalten. Ich will als Mediziner das Recht haben, die Sportler dabei zu unterstützen, ihren Job zu tun, so wie ich das bei jedem anderen auch tue."
Das System des Spektakelsports
Zur Diskussion sollte laut Mouthon nicht die Schuld und Verwerflichkeit des einzelnen Sportlers und derer, die ihm helfen, stehen. Die Empörung sollte sich vielmehr gegen das gesamte System des Spektakelsports richten, das etwa von einem Radprofi 150 Renntage pro Jahr mit jeweils sechs Stunden Rasen am Limit verlangt; teilweise, wie bei der Tour, drei Wochen Non-Stop mit vielen brutalen Bergfahrten. Und das alles im Dienst stabiler Fernsehpräsenz und somit satter Werbeverträge. Abschreckend wirkt das aber nicht: Im Wintersport eifern die Langläufer in den kommenden Tagen mit der neuen "Tour de Ski" über mehrere Tagesetappen erstmals dem öffentlichkeitswirksamen Vorbild der Radprofis nach.
Wenn man, wie König vorschlägt, ernst nimmt, was das Doping uns über den Sport zu sagen hat, dann hat man es mit einem atemlosen, narzisstischen Hetzen nach einem winzigen Vorteil in einer ins Absurde überdrehten Wettbewerbskultur zu tun - ohne Rücksicht auf Folgen oder Verluste und ohne höhere Werte und höheren Sinn. Oder wie König schreibt, eine "zwanghafte und grenzenlose Selbst- und Fremdausbeutung." Die Entrüstung der einen, die daran teilhaben der Politiker, Journalisten, Fans, Vermarkter und Sponsoren über die anderen - die Sportler, Mediziner und Trainer hat angesichts einer solch schonungslosen Betrachtung, laut König, die "Wirkung einer Fahrradbremse an einem Interkontinentalflugzeug."
Für den Soziologen gibt es keine wirksame Reform des Systems der Sport schreitet unaufhaltsam seiner Perversion und letztlich seiner Selbstzerstörung entgegen, während auf den Rängen unbeirrt weitergejubelt wird. Die Athleten müssten es sich leisten können zu verlieren, hat Königs Kollege Uwe Schimank als einzig denkbaren Lösungsansatz angeboten. Nur um dann gleich einzuschränken, dass das ja der grundlegenden Logik des Leistungssports widersprechen würde. Dabeisein war noch nie alles.