Schach-Giganten Kasparow und Carlsen Meine Duelle mit Feuerkopf und Boa Constrictor
Das Schöne am Journalistenberuf ist ja, dass man sich auch ungewöhnliche Träume erfüllen kann. Beispielsweise den Traum, die beiden besten Schachspieler der letzten Jahrzehnte um eine Partie zu bitten. Mann gegen Mann, ohne jede Störung am Brett, je zehn Minuten Bedenkzeit. Ein Selbstversuch. Klar, ich habe keine Chance, aber wie nutze ich sie?
Für Nicht-Schachspieler: Den Ex-Weltmeister Garri Kasparow und den derzeitigen Champion Magnus Carlsen auf den 64 Feldern herauszufordern, das ist in etwa so wie für einen leidlich begabten Tennis-Fan gegen Federer und Nadal anzutreten; für einen Hobby-Rennfahrer gegen Alonso und Vettel auf dem Nürburgring Runden zu drehen, für einen Freizeit-Golfer gegen Langer und Woods einzulochen.
Die Frage ist nicht, ob man gewinnt. Die Frage lautet vielmehr: Wie lange kann man sich gegen die Übermächtigen halten - und wie profitiert man am besten von der Erfahrung? Und lässt sich so auch etwas über die Kontrahenten erfahren? Stimmt das Bild vom Feuerkopf Kasparow, von Carlsen, dem Supercoolen? Oder ist das nur ein Klischee?
Rückblick, Köln 2008. Kasparow ist da schon freiwillig vom Schach-Thron abgetreten, nach mehr als einem Jahrzehnt an der Weltspitze, und mit der bis dahin höchsten Wertung irgendeines Spielers: 2815 Elo-Punkte. Aber er macht noch gelegentlich Schaukämpfe. Am Rand eines solchen Auftritts spielt er gegen mich. Es wird eine erstaunliche Partie: Er überlässt mir die weißen Steine, ich opfere gegen seine königsindische Verteidigung einen Bauern, den er kampfeslustig annimmt. Das Brett steht nach 17 Zügen in Flammen. Ich bringe die Türme in Stellung und bereite mich vor auf einen Angriff gegen seine bedrängte Königsstellung.
Und Kasparow reagiert. Zieht die Stirn in Zornesfalten. Kratzt sich am Hinterkopf. Beugt sich drohend übers Brett, als wollte er Gegner und Gewitterwolken verscheuchen. Zeigte er etwa Nerven? Stehe ich gut, womöglich sogar auf Gewinn?
"Für einen Laien eine sehr bemerkenswerte Partie"
Er entschließt sich auf dem Damenflügel zur Gegenattacke. Ich tausche noch meinen Läufer, um auf der jetzt offenen h-Linie zum Schlag auszuholen. Und dann sehe ich plötzlich einen unglaublichen Zug - ein Springeropfer. Ich getraue mich nicht. Und trete den positionellen Rückzug an. Noch drei, vier Züge und es geht mit meiner Stellung deutlich abwärts. In schwieriger Position kann ich nicht so schnell und so weit rechnen wie er - und muss nach Zug 27 die Waffen strecken. Hab ich eine Glanzpartie durch Feigheit in den Sand gesetzt?
Er gratuliert mir zu der "für einen Laien sehr bemerkenswerten Partie", schätzt meine Elo-Zahl sehr freundlich und deutlich übertrieben auf 1900, das ist die eines starken Club-Spielers. Small Talk. Dann muss er leider schnell weg, kann nichts mehr zur Partie erklären. Einige Monate später grüßt ihn ein Kollege von mir, der ihn in St. Petersburg in Sachen russischer Oppositionspolitik interviewt, und beschreibt die Umstände unseres Zusammentreffens. "Na, denkt Ihr Kollege immer noch über das Opfer nach?", fragt Kasparow, der auch noch als "Freizeitsportler" mehrere tausend Partien im Kopf hat.
Carlsen als "Boa Constrictor des Schachs"
Kasparow widmet sich ganz der russischen Politik, muss feststellen, dass er den Winkelzügen eines Wladimir Putin nicht gewachsen ist. Er greift noch einmal in die große Schachwelt ein - als Trainer eines damals 18-jährigen norwegischen Talents, das er ein knappes Jahr lang coacht. Aus der Politik zieht sich Kasparow frustriert zurück. Heute bewirbt sich der schillernde Großmeister für den Präsidentenposten des Weltschachverbands Fide.
Oslo, Februar 2014, Treffen mit Magnus Carlsen. Er ist der junge Norweger, dem Kasparow noch den letzten Schliff gegeben hat. Inzwischen hat er seinen Lehrmeister sogar übertroffen, kein Mensch dürfte je das komplexe und anspruchsvolle königliche Spiel so durchdrungen haben wie er, die Elo-Zahl des 23-Jährigen liegt bei 2880. Im indischen Chennai ist Carlsen der Große Ende November ohne Niederlage Weltmeister geworden. Weit und breit ist derzeit keiner zu sehen, der ihm den Titel streitig machen könnte. Aber während Kasparow der Ruf eines Romantikers vorausgeht, der bei jeder Stellung an "unsterbliche" Züge gedacht hat, gilt Carlsen als "Boa Constrictor des Schachs", weil er seinen Gegnern auf dem Brett buchstäblich die Luft abschnürt. Eher kaltblütiger Vollstrecker als reiner Schöngeist. Der Ehrenpräsident des Deutschen Schachbundes geht gar so weit, dem Champion "seelenloses und blutleeres" Spiel zu unterstellen.
Ich wähle gegen Carlsen die Eröffnung mit dem Damenbauern, wie gegen Kasparow. Es entwickelt sich dann bald ein ganz anderer Kampf als der mit seinem Vorvorgänger auf dem Schach-Thron. Eine positionelle Partie, bei der ich fast unmerklich in Nachteil gerate. Langsam, nach und nach. Um mich aus der drohenden Umklammerung zu befreien, entschließe ich mich zur langen Rochade. Er zeigt keine Emotionen, bleibt stoisch gelassen. Pokerface. Was gegen Gleichstarke womöglich noch chancenreich gewesen wäre, erweist sich gegen Carlsen als der falsche Weg. Mit präzisem Spiel stürzt er sich auf meinen Schwachpunkt c3, der sich bald nicht mehr sinnvoll decken lässt. Ich muss Material abgeben. Als nach dem 22. Zug feststeht, dass ich seiner Dame nur mehr den Turm entgegenzusetzen habe, gebe ich auf.
Gegen Kasparow bin ich immerhin in "Strafraumnähe" gekommen
War das nun "seelenlos" - oder auf eine ganz andere, konsequent positionelle Weise spektakulär? Carlsen hat Schach auf seine Weise meisterhaft weiterentwickelt. Er verschafft sich auch gegen weitaus Stärkere als mich leichte Vorteile, weitet sie zu Gewinnstellungen aus. Das als unkreativ abzutun, zeugt von wenig Schachverständnis. Mit einer ähnlichen Argumentation könnte man auch den Fußball, den Bayern München spielt, mit hohem Anteil an Ballbesitz, geduldigem Warten und dann blitzschnellem Zuschlagen als seelenlos beschreiben. Carlsen, der als schwieriger Interviewpartner gilt, gibt sich nach der Partie ganz locker. "Ich nehme die Fehler meiner Gegner für mich in Anspruch", sagt er.
Bei ChessBase in Hamburg, dem Eldorado der Spitzenspieler und Heimat des stärksten Schachcomputers weltweit, analysiert der Internationale Meister Oliver Reeh mit mir die Carlsen-Partie - und dann auch die Kasparow-Stellung. Denn ja, zugegeben, es hat mich lange und immer mal wieder beschäftigt, ob ich da meine eigene Traum-Fortsetzung für eine "Jahrhundertpartie" ausgelassen habe. Während ich bei Carlsen laut Meister Reeh "kaum aus der eigenen Hälfte gekommen" bin, sieht er mich in der Kasparow-Partie zumindest in "Strafraumnähe". Und selbst er muss bei der komplizierten Stellung mal den Computer nach der besten Fortsetzung befragen. Beruhigend und enttäuschend zugleich - mein angedachtes Springeropfer, es hätte sich widerlegen lassen.