
Ex-Boxer Blin Der schlimmste Gegner ist die Langeweile
Bald macht Jürgen Blin das Licht aus. Auf der Südseite des Hamburger Hauptbahnhofs wird es seine Bier- und Snackbar nicht mehr geben. Raucherlokale sollen künftig vom Areal verschwinden. Der Box-Europameister von 1972 steht hinter dem Tresen, macht mit der offenen rechten Hand eine kurze Bewegung. "Ich höre ganz auf", sagt der 68-Jährige. Höchstens noch anderthalb Jahre, dann ist Schluss.
Aufhören, aufgeben, das ist nicht seine Art. Der Ruhestand beunruhigt ihn. "Ich habe ein wenig Angst davor", sagt Blin, der sich vor niemandem gefürchtet hat. Nicht vor Gerhard Zech, Wilhelm von Homburg oder Ray Patterson, nicht vor Joe Bugner, George Johnson oder Ron Lyle. "Es konnte kommen, wer wollte", sagt Blin, "mir war es egal. Ich habe alle geboxt." Er hatte auch keine Angst vor dem Größten, vor Muhammad Ali, mit dem er sich genau vor 40 Jahren, am 26. Dezember 1971 im Zürcher Hallenstadion duellierte. Heute fürchtet sich Blin vor einem bedrohlicheren Gegner - der Langeweile.
Jeden Tag macht er um 6 Uhr früh in seiner Kneipe das Licht an. Seine Kneipe ist sein Ring, kaum größer als sein früherer Arbeitsplatz. Bereits um 10 Uhr ist das Etablissement gut besucht. Immer wieder halten die Gäste leere Bierflaschen in die Luft. Zu Blins Kunden zählen Durchreisende, die kurz einen Kaffee trinken oder für 50 Cent die Toilette benutzen. Stammgäste hat er aber auch. An diesem Morgen sind einige Nachtarbeiter am Trinken und Zocken: ein Bäcker ist dabei und ein Lagerist vom Großmarkt.
"Oft ging ich in den Wald und heulte"
Blin selbst trinkt nur selten. Ein Glas Wein zu einer Feier geht in Ordnung, sonst nichts. Bis vor kurzem rannte er dreimal die Woche sieben Kilometer. Jetzt hat er aufgrund eines schiefen Beckens verkrampfte Oberschenkel, Blin hinkt. Trotzdem trainiert er. In seinem Haus im Hamburger Stadtteil Boberg läuft er alle paar Tage 15 Mal die 50 Treppenstufen schnell hoch und langsam runter.
Deshalb ist er so geblieben, wie er es als Boxer war. Wendig, schnell. Wie im Ring tanzt er hinter der Bar. Nicht jeder kann gleich zahlen, zu Blins Gästen zählen viele Hartz-IV-Empfänger. Er drückt ein Auge zu, vielleicht gar beide. Er weiß, dass sie irgendwann zahlen werden, am Ende der Woche.
Er weiß auch, wie hart das Schicksal zuschlagen kann. Sein Vater trank. Immer wieder gab es Ärger mit den Bauern, bei denen dieser als Melker angestellt war. Immer wieder musste die Familie umziehen, sechsmal wechselte Jürgen Blin die Schule. Er ist es, der anstelle des Vaters um 4 Uhr morgens im Stall melkt und danach im Klassenzimmer nach Mist stinkt. Niemand will sich neben ihn setzen. "Kinder können grausam sein", sagt er. Nie mehr möchte er zurück. "Ich war vollkommen verstört. Oft ging ich in den Wald und heulte."
In Hamburg entdeckt Blin sein großes Boxtalent
Mit 14 Jahren flüchtet er aus seiner Heimat, der Ostseeinsel Fehmarn, nach Hamburg. Blin arbeitet auf Schiffen, reist nach Liberia, Kanada, Norwegen, putzt Messing für 100 Mark im Monat: "Wäre ich über Bord gegangen, hätte kein Hahn nach mir gekräht." Doch er hatte auch Glück. Zurück in Hamburg lernt er einen Metzger kennen, der sich um ihn kümmert, ihm einen Ausbildungsplatz bietet - und ein Zuhause. Gegenüber der Fleischerei gab es eine Boxhalle. "Ich habe meine Chance gesehen", sagt Blin. Beim Boxen hat er erstmals gemerkt: "Du kannst ja doch etwas."
Training um Training, Kampf um Kampf, Sieg um Sieg steigt sein Selbstvertrauen. "Ich wollte unbedingt Profi werden, um raus aus dem Dreck zu kommen." Er schafft es. Blin wird Hamburger Meister, Deutscher Amateurmeister, Deutscher Meister. 1970 und 1971 kämpft er vergeblich um den EM-Titel.
Dennoch bekommt er den Kampf seines Lebens. Für eine Gage von 180.000 Deutsche Mark steigt er gegen Muhammad Ali in den Ring. Nach sieben rabiaten Runden ist der mutige Blin ausgepumpt, geht in die Seile, dann in die Knie. Sportlich habe der Kampf nichts gebracht, sagt Blin. "Ich hatte ohnehin keine Chance. Der EM-Titel 1972 war mir viel wichtiger."
Nach der Scheidung verliert Blin sein Vermögen und später seinen Sohn
Insgesamt rund eine Million Mark verdient er in seiner Karriere. Er eröffnet mehrere Imbissbuden, besitzt Immobilien. Doch Blin macht einen fatalen Fehler: Nach der Scheidung gibt er einen Teil seiner Geschäfte an die Ex-Frau und die gemeinsamen Söhne ab. In seiner Zerstreutheit unterschreibt er eine Bürgschaft, die ihm später eine Million kosten würde. Fast sein ganzes Vermögen ist dahin.
Und er erlebt nicht nur finanzielle Sorgen. Knut, der jüngste der drei Söhne ist ab dem 20. Lebensjahr manisch-depressiv. Der begnadete Boxer und Deutsche Juniorenmeister beendet seine Karriere und quält sich 16 Jahre lang bis zu seinem Freitod 2004. Jürgen Blins Partnerin, mit der er seit 18 Jahren liiert ist, kämpfte zweimal erfolgreich gegen schwere Krebskrankeheiten.
Blin blickt auf all das zurück. "Das waren schwere Schläge", sagt er, "ich bin froh, dass alles vorbei ist." Er steht wieder. Er hat sein Haus, einige Wohnungen und noch eine Weile lang die Kneipe. Er sieht glücklich aus.
In der "Ritze", dem legendären Hamburger Box-Keller auf St. Pauli, zeigt er, wie er sich mit 68 Jahren immer noch selbst herausfordert. Er springt Seil, hebt Gewichte, lässt den Sandsack gehörig baumeln. Und er traut sich immer noch in den Ring, selbst gegen einen 30-Jährigen, auch wenn er danach aus der Nase blutet. "Kneifen gilt nicht", sagt Blin.