Handball-EM-Analyse Selten so chancenlos

Defensive schwach, Offensive ideenlos, Bilanz niederschmetternd: Die deutsche Handball-Nationalmannschaft hat bei der Europameisterschaft das schlechteste Ergebnis seit zehn Jahren erreicht. Die Chancen für die Olympischen Spiele 2012 stehen kaum besser.
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DHB-Kader in der EM-Analyse: Wenig Lichtblicke, viele Enttäuschungen

Foto: Robert Parigger/ dpa

Ein Interview im Morgenmagazin? Am Tag des letzten Spiels? Die Lust des Bundestrainers hielt sich in Grenzen. Heiner Brand fragte sich, was ein solcher TV-Auftritt noch bringen sollte, zumal die Handball-Europameisterschaft für sein Team gelaufen war. Schließlich ging es vor der abschließenden Hauptrundenpartie gegen Tschechien nicht mehr ums Halbfinale, sondern nur um die Platzierung. Brand zögerte also ein paar Sekunden, dann stimmte er der Anfrage des ZDF doch zu. Eine Zusage, die von der professionellen Einstellung des Gummersbachers zeugt.

Die Bilanz, die Brand tags zuvor im Hotel "Grauer Bär", dem deutschen Mannschaftsquartier in Innsbruck, gezogen hatte, fiel niederschmetternd aus. Die Resultate sprachen schließlich eine ziemlich eindeutige Sprache: Lediglich der Zittersieg im letzten Vorrundenspiel gegen Schweden (30:29)hatte drei Jahre nach dem triumphalen WM-Titel ein historisches Debakel verhindert. Mit den Unentschieden gegen Slowenien (34:34) und Tschechien (26:26) sowie den Niederlagen gegen Polen (25:27), Frankreich (22:24) und Spanien (20:25) waren die Deutschen stets noch gut bedient; in fast allen Partien hatten sie die teils riesigen Rückstände erst am Ende reduziert. Selten war eine deutsche Mannschaft so chancenlos wie in Österreich. "Das Turnier war sicher kein Fortschritt", resümierte Horst Bredemeier, der für den Leistungssport zuständige Vizepräsident des Deutschen Handballbundes (DHB).

Brand fiel es ziemlich schwer, Positives aufzuzählen: Den leidenschaftlichen Kampfgeist des Teams, der schon fast sprichwörtlich ist; die soliden, aber nicht überragenden Torhüterleistungen; die teils erfreulichen Auftritte des Spielmachers Michael Haaß (Frisch Auf Göppingen) und des Kreisläufers Christoph Theuerkauf (SC Magdeburg). Alles freilich ziemlich ernüchternd, wenn man bedenkt, dass einige Profis vor dem Turnier sogar mit einer Medaille geliebäugelt hatten. Brand ließ indes durchblicken, dass er nicht mit viel mehr gerechnet hatte. "Dieses Turnier werde ich wahrscheinlich schneller verarbeiten als andere", sagte der 57-Jährige.

Defizite des deutschen Teams offensichtlich

Womöglich wäre mit dem erfahrenen Rückraum-Shooter Pascal Hens (HSV Hamburg), der wegen einer erst kürzlich ausgestandenen Verletzung auf die EM verzichtet hatte, eine bessere Platzierung möglich gewesen. Doch davon unabhängig sind die Defizite des deutschen Teams offensichtlich: Die traditionelle 6:0-Abwehr, von jeher das Prunkstück des deutschen Spiels, erreichte nie die Qualität früherer Turniere. Abwehrchef Oliver Roggisch (Rhein Neckar-Löwen), der den Mittelblock allerdings mit unerfahrenen Nebenleuten wie Manuel Späth, Haaß und Lars Kaufmann (alle Göppingen) organisieren musste, spielte ein ganz schwaches Turnier. Es rächte sich, dass das deutsche Team keine anderen Varianten in der Defensive aufbieten kann. "Die Abwehr hatte nicht die Stabilität, die ich mir gewünscht hätte", sagte Brand.

Die Mängel in der Verteidigung bedingten teils die eklatanten Schwächen in der Offensive: Dadurch, dass die Abwehr kaum Bälle eroberte, erzielten die Deutschen auch kaum leichte Tore im Tempogegenstoß. Auch der erweiterte Tempogegenstoß, die "zweite Welle", existierte nicht, obwohl zum Beispiel die Spanier nach eigenen Angriffen drei Spieler auswechselten und dafür Abwehrspezialisten aufs Feld schickten.

Flügelspieler und Kreisläufer kaum eingebunden

Das deutsche Positionsspiel schließlich wirkte permanent überfordert: Regisseur Michael Kraus (TBV Lemgo), nicht fit angereist, bekam die Spielsteuerung nur selten in den Griff, die Shooter Lars Kaufmann und Holger Glandorf (Lemgo), warfen oft überhastet aufs Tor, die Flügelspieler und auch die Kreisläufer wurden kaum vom Rückraum eingebunden. Allein Linksaußen Torsten Jansen (HSV) knüpfte - die Partie gegen Tschechien ausgenommen - an seine grandiosen Leistungen vergangener Jahre an.

"Deutschland befindet sich im Umbruch, da konnte man nicht mehr erwarten", sagte der ehemalige Kieler Profi Stefan Lövgren, der das Turnier als TV-Experte verfolgt. Die deutsche Mannschaft besitze einfach "nicht die Spitzenkompetenz auf den einzelnen Positionen", die Frankreich mit vielen Profis oder Tschechien mit Rückraum-Ass Filip Jicha aufweise. Zwar seien einige Positionen solide besetzt, aber es fehle die Tiefe im Kader. "Und das wird einfach bei einem solchen Turnier brutal bestraft", sagte Lövgren, der mit Schweden viermal Europameister wurde.

Dass sich an dieser Fundamentalanalyse bis zu den Olympischen Spielen 2012 in London grundsätzlich etwas ändert, ist kaum zu erwarten. Der Kader für das olympische Turnier stehe weitgehend, sagte Brand. Lediglich junge Spieler wie Patrick Groetzki und Steffen Fäth (beide Rhein-Neckar Löwen), Steffen Weinhold (Großwallstadt) oder Patrick Wiencek (Tusem Essen) könnten noch dazustoßen. "Und vielleicht taucht ja noch irgendwo ein Wunderkind auf", sagte Brand mit ironischem Unterton. Denn Wunder, das weiß der Bundestrainer selbst am Besten, gibt es im Handball ziemlich selten. Es sieht so aus, als stünden dem deutschen Handball schwere Zeiten bevor.

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