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Toter Ex-NFL-Profi Seau: Versehrter Krieger

Foto: MIKE SEGAR/ REUTERS

Kopfverletzungen im US-Football Tödliches Schweigen

Im Mai 2012 schockierte der Suizid von Footballstar Junior Seau die Welt. Nun steht fest: Seau litt an einer Gehirnerkrankung, ausgelöst durch den Sport, für den er 20 Jahre lang alles gab. Seau ist kein Einzelfall, und doch tun die Verantwortlichen der Profiliga NFL nur eines: schweigen.

Marcellus Wiley ist nachdenklich geworden, seit sich sein einstiger Teamkollege Junior Seau das Leben genommen hat. "Wenn ich die Parallelen zwischen seiner und meiner Karriere ziehe, frage ich mich schon, wie es mit meiner Sterblichkeit aussieht", sagt der ehemalige Football-Profi Wiley.

Wiley, heute 38 Jahre alt, war zehn Spielzeiten Linebacker in der National Football League, von 2001 bis 2003 stand er bei den San Diego Chargers an der Seite von Seau auf dem Feld. Schon nachdem dieser sich am 2. Mai 2012 mit einem Schuss in die Brust getötet hatte, gab es die ersten Gerüchte, dass sein Suizid auf eine Gehirnerkrankung zurückzuführen sein könnte - und diese wiederum auf 20 Jahre Football in der wohl härtesten Liga der Welt.

Jetzt sind es keine Gerüchte mehr.

Untersuchungen des Nationalen Gesundheitsinstituts NIH aus Bethesda im US-Bundesstaat Maryland haben ergeben, dass Gehirnzellen des 43-Jährigen geschrumpft und verletzt waren, ein Indiz für eine chronisch traumatische Enzephalopathie (CTE). Klar ist nun: Das Gehirn von Junior Seau wurde zerstört durch das Spiel, das er so liebte.

Für Ann McKee war das Ergebnis keine Überraschung. "Wir haben ja über seine Familie von seinem unnormalen Verhalten, den Depressionen und Stimmungsschwankungen gehört", sagt die Professorin vom Zentrum für Traumatische Enzephalopathie an der Boston University. McKee gilt als eine der führenden Experten im Feld der CTE-Forschung und hat mit Robert Cantu die degenerative Krankheit bei 50 ehemaligen Sportlern nachgewiesen. 35 von ihnen waren NFL-Profis. "CTE wurde bislang noch nie bei einem Menschen ohne wiederholte Gehirnverletzungen festgestellt", sagt Robert Cantu.

Mögliche Folgen: Depression und Gedächtnisverlust

Das Erstaunliche: In seinen 20 NFL-Jahren wurde bei Seau nie eine Gehirnerschütterung diagnostiziert, obwohl er schätzungsweise 1850-mal seine Gegenspieler zu Boden riss. Bei vielen dieser Aktionen rannte der 112-Kilo-Mann mit dem Kopf voran in den Widersacher. Seine geschiedene Frau Gina erinnert sich, dass sie im Schlafzimmer immer die Jalousien heruntergelassen habe, damit ihr Mann im dunklen Raum ausruhen konnte.

Das Problem sei, so McKee, dass viele Hirntraumata nicht stark genug sind, um als Gehirnerschütterung diagnostiziert zu werden. Die Folgen können Depression, Gedächtnisverlust und Stimmungsschwankungen sein. Seau hatte etliche dieser kleinen Hirnverletzungen.

McKees Meinung nach sollte "die große Anzahl von Fällen einfach Beweis genug sein für die, die immer noch bestreiten, dass es hier ein Problem gibt". Gemeint ist die Liga, die sich bislang sehr bedeckt gehalten hat zu dem Thema, das sie seit Jahren beschäftigt. Derzeit wird sie von mehr als 4000 ehemaligen Spielern sowie den Familien von mehr als 1500 verstorbenen Profis verklagt. Sie alle behaupten, dass die NFL den Zusammenhang zwischen Football und Gehirnschädigungen ignoriert oder geleugnet habe. Commissioner Roger Goodell lässt zwar keine Gelegenheit aus hervorzuheben, dass "Sicherheit und Gesundheit der Spieler oberste Priorität haben". Zudem kündigte er an, dem NIH 30 Millionen Dollar für die Gehirnforschung zukommen zu lassen. Dennoch wurden die bisherigen Ergebnisse von McKee und Cantu meist angezweifelt.

"Wir müssen aufhören zu diskutieren, ob CTE existiert und ob sie Folge von wiederholten Gehirnerschütterungen ist", fordert McKee. Statt zu streiten solle man sich darauf konzentrieren, wie die Krankheit zu Lebzeiten besser diagnostizierbar sei. Es könne schon ein Fortschritt sein, so argumentiert die Expertin, wenn jemand wisse, dass er an CTE leide. Somit seien die damit einhergehenden Verhaltensveränderungen auch für die Familie erklärbar. Immerhin: ESPN berichtet nun über einen ehemaligen Quarterback, der nach CTE-Symptomen eine Therapie begonnen hat , die angeblich erfolgreich verlief.

"Da bist du manchmal nur etwas benebelt"

Ex-Profi Marcellus Wiley ist allerdings nicht sicher, ob er eine CTE-Diagnose überhaupt machen lassen würde. "Wahrscheinlich nicht", sagt er. Seine Angst ist unüberhörbar. "Seit Juniors Tod denke ich oft darüber nach, dass ich manchmal auch schlaflose Nächte habe oder Sachen vergesse. Das beunruhigt mich." Während seiner Karriere wurden bei ihm zwei Gehirnerschütterungen festgestellt. Wiley erinnert sich, wie er im Training einem Offensive Lineman gegenüberstand und aus wenigen Metern Entfernung mit vollem Tempo auf ihn zulief. Die erste Kollision sei gar nicht so schlimm gewesen. "Da bist du manchmal nur etwas benebelt", so Wiley. "Aber wenige Sekunden später musst du den gleichen Drill noch einmal machen. Und anstatt allen zu zeigen, wie schmerzhaft es war, setzt du ein Lächeln auf, um den anderen zu signalisieren, dass du das locker wegsteckst."

Falscher Ehrgeiz ist kein Einzelfall unter NFL-Profis. Eine Umfrage von "The Sporting News" ergab kürzlich, dass 56 Prozent Symptome einer Gehirnerschütterung verschweigen würden, um auf dem Spielfeld bleiben zu können. Manchmal müsse man den Spieler eben vor sich selbst schützen, sagt Wiley.

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