Handballteam in der Analyse Böse Jungs mit vielen Waffen

Als Gruppensieger trifft die deutsche Handballnationalmannschaft im Viertelfinale von Rio auf Katar. Das Team von Trainer Dagur Sigurðsson hat sich seit dem EM-Titel enorm gewandelt. Doch jetzt muss es lieb sein.
Von Karsten Görsdorf
Uwe Gensheimer

Uwe Gensheimer

Foto: ROBERTO SCHMIDT/ AFP

Die deutsche Handballnationalmannschaft ist mit vier Siegen gegen Schweden, Polen, Slowenien und Ägypten sowie einer Niederlage gegen Gastgeber Brasilien als Gruppenerster in das olympische Viertelfinale eingezogen. Um 18.30 Uhr (Liveticker SPIEGEL ONLINE) kann das Team gegen Vizeweltmeister Katar ins Halbfinale vorstoßen - oder, wie es Co-Trainer Alexander Haase ausdrückt: "den Weg zu den Medaillen verkürzen".

Auch vor dem Katar-Spiel wird Trainer Dagur Sigurðsson wieder seine Ansprache an das Team halten, und kurz davor wird er wie immer sagen: "Eine Minute." Danach weiß jeder Spieler, er hat jetzt noch genau 60 Sekunden Zeit, um sich die Schuhe zu binden, etwas zu trinken und den Fokus zu setzen. Nach exakt 60 Sekunden beginnt der Isländer seine Ansprache. Was wird er diesmal sagen?

Dagur Sigurðsson

Dagur Sigurðsson

Foto: Lukas Schulze/ dpa

Klar ist: Die drei Trainer Sigurðsson, Haase und Axel Kromer haben mit der Mannschaft aufgrund gravierender Regeländerungen vor dem Turnier und den Erfahrungen in Rio bei den ersten fünf Spielen ein paar taktische Ergänzungen und teilweise auch Änderungen einstudiert, die heute im ersten K.-o.-Spiel ihre volle Wirkung entfalten sollen.

Die Analyse zeigt die Stärken und Schwächen des Teams - und beweist, dass sich die DHB-Mannschaft seit dem EM-Titel vor einem halben Jahr grundlegend gewandelt hat. Weil sie musste.

Das Defensivverhalten

Unter anderem durch die prominenteste Regeländerung im Handball, die Möglichkeit, den Torwart durch einen zusätzlichen Feldspieler zu ersetzen, agiert das deutsche Team hauptsächlich im 6:0-System defensiver und nicht so aggressiv wie bei der EM. Das Trainerteam um Sigurðsson suchte vor dem Turnier den Austausch mit erfahrenen Trainern, um Gegenstrategien zu entwickeln. Eine davon: Torhüter Andreas Wolff wird selbst zum Torjäger. Wegen seiner vier Turniertore überlegen es sich die gegnerischen Trainer nun genau, ob sie zur neuen Variante greifen.

Der deutsche Innenblock, vor allem mit Hendrik Pekeler und Patrick Wiencek, kommuniziert intensiv, tritt häufig gut abgestimmt heraus. Würden im Handball wie in der NBA die Hustle Stats (hustle = sich ins Zeug legen) erhoben werden, würde Pekeler die Rankings in einigen Kategorien anführen. Er ist ein gutes Beispiel dafür, was mit Hingabe und Konzentration hart am Limit der Regelauslegung möglich ist.

Deutsche Defensive im Vergleich zum Turnierschnitt

Deutsche Defensive im Vergleich zum Turnierschnitt

Foto: Institut für Spielanalyse

Die Schwäche im Defensivverhalten der deutschen Mannschaft wird durch die strenge Regelauslegung beim olympischen Turnier noch verstärkt - das Foulspiel mit nachfolgenden Zeitstrafen. "Die Linie der Unparteiischen verleitet natürlich nicht dazu, dass ein Abwehrspiel wie bei der EM möglich ist", sagt Andreas Wolff dazu. Hier werden die "Bad Boys" ihrem Namen gerecht - 37 Zeitstrafen und zwei Rote Karten bedeuten Platz elf im Fair-Play-Ranking, nur Slowenien spielte unfairer. In der K.-o.-Phase wird es hier darauf ankommen, sich an die Einstellung der Schiedsrichter anzupassen, um nicht zu oft in Unterzahl agieren zu müssen.

Hinter den Feldspielern agieren im deutschen Team bei diesem Turnier Andreas Wolff und Silvio Heinevetter. Wolff ist gesetzt, Heinevetter erhielt seine Chance gegen Brasilien. Bislang entschärften sie von den 197 Würfen auf ihr Tor 28 Prozent aller Bälle. Das entspricht dem Turnierdurchschnitt, aber vor allem die psychologisch wichtigen Bälle wie bei Tempogegenstößen oder Durchbrüchen hielten die beiden in wichtigen Phasen in Serie.

Das Offensivverhalten

Waren in der Vergangenheit jedem Gegner die Auslösehandlungen des deutschen Teams bekannt, weil sie maschinenhaft gespielt wurden, ist jetzt dank Paul Drux und Kai Häfner eine beispiellose Flexibilität ins Angriffsspiel eingezogen. Wenn Drux nicht angegriffen wird, geht er ins direkte Eins-gegen-eins und schließt ab. Mit Häfner hat Sigurðsson zudem einen Spieler, der alle Positionen von der Rückraummitte über Halbrechts bis Rechtsaußen spielen kann. Lange Jahre verkannt, erfährt er jetzt endlich Anerkennung. Er dankt es durch Anspiele auf die Kreisspieler und Außen und nicht zu verteidigende Würfe aus der Hüfte.

Deutsche Offensive im Vergleich zu den bisherigen Gegnern

Deutsche Offensive im Vergleich zu den bisherigen Gegnern

Foto: Institut für Spielanalyse

In diesem Turnier hatte die deutsche Mannschaft bislang 270-mal Ballbesitz. Daraus wurden 217 Würfe abgegeben und 153 Tore erzielt - dieser Wert liegt zehn Prozentpunkte über dem Turnierschnitt! Ein durchschnittlicher, erfolgreicher Ballbesitz im Positionsspiel der deutschen Mannschaut dauert 31 Sekunden, aber auch mal fünf Sekunden. Wurde früher Kunst um der Kunst willen der Ball vor dem Kreis transportiert, geht es jetzt sofort auf die Nahtstellen der Gegner - nicht hektisch, sondern mit Geduld, bis sich eine Lücke ergibt.

Die Schwäche im Angriff des deutschen Teams zeigte sich gegen die offensive 3:2:1-Abwehrformation der Brasilianer. Hier taten sich die Jungs von Sigurðsson schwer damit, geduldig bis zur Lücke weiter zu spielen. Es wird interessant zu sehen sein, ob das Trainerteam für den Fall, dass Katar heute so spielen lässt, einige Auslösehandlungen parat hat, die zum Erfolg führen können.

Dazu könnte auch ein besonderer Kempa-Trick gehören, den Kai Häfner und Tobias Reichmann vor gut zehn Jahren in einem Testspiel in der A-Jugendnationalmannschaft gegen Tschechien brachten. Aber damals gab es wahrscheinlich noch keine katarische Gegneranalyse.

Zur Person
Foto: Institut für Spielanalyse

Dr. Karsten Görsdorf ist gemeinsam mit Dr. Christoph Moeller Geschäftsführer des Instituts für Spielanalyse, das für Ligen, Verbände, Klubs und Medien Analysen in verschiedenen Spielsportarten durchführt. In den Jahren 2010ff half das Team um Moeller und Görsdorf dabei mit, das Projekt der Offiziellen Spieldaten im Hause der DFL zu entwickeln und später auch die Erheber Impire (heute Deltatre) und Opta Deutschland zu überprüfen. Im Fußball bedient sich das Institut für Spielanalyse derzeit der Methode der Episodenanalyse.Profacts Facebook Profacts Instagram 

Die Wiedergabe wurde unterbrochen.
Merkliste
Speichern Sie Ihre Lieblingsartikel in der persönlichen Merkliste, um sie später zu lesen und einfach wiederzufinden.
Jetzt anmelden
Sie haben noch kein SPIEGEL-Konto? Jetzt registrieren
Mehrfachnutzung erkannt
Bitte beachten Sie: Die zeitgleiche Nutzung von SPIEGEL+-Inhalten ist auf ein Gerät beschränkt. Wir behalten uns vor, die Mehrfachnutzung zukünftig technisch zu unterbinden.
Sie möchten SPIEGEL+ auf mehreren Geräten zeitgleich nutzen? Zu unseren Angeboten