Olympiasiegerin Semenya Für einen Moment unbeschwert

Caster Semenya hat bei den Olympischen Spielen in Rio die Goldmedaille über 800 Meter gewonnen. Weil die Südafrikanerin intersexuell ist, gibt es Kritik. Die brasilianischen Zuschauer jedoch feierten die 25-Jährige.
Von Michael Wilkening
Caster Semenya

Caster Semenya

Foto: ALESSANDRO BIANCHI/ REUTERS

Es gab Momente der Unbeschwertheit. Gemeinsam mit Francine Niyonsaba und Margaret Wambui, der Zweiten und Dritten des 800-Meter-Rennens, befand sich Caster Semenya auf der Ehrenrunde im "Estádio Olimpico João Havelange", als die drei Sportlerinnen aufgehalten wurden. In die jeweilige Landesfahne gehüllt, mussten sie vor der Haupttribüne ausharren, weil gerade die Siegerehrung für die 4x100-Meter-Staffel der Damen begonnen hatte.

Semenya nahm ihre Begleiterinnen in den Arm, und plötzlich wirkten Konkurrentinnen wie Freundinnen. Semenya blödelte, sie lachte herzlich und schien für einen Moment zu vergessen, dass immer noch viele Kameras auf sie gerichtet waren.

Als eine halbe Stunde später bei der Siegerehrung für den 800-Meter-Lauf der Name Caster Semenya genannt wurde, jubelten die Menschen im Olympiastadion der Südafrikanerin zu. Sieben Jahre zuvor, als die damals 18-Jährige in Berlin Weltmeisterin wurde, hatte es noch mehrheitlich Pfiffe gegen die maskulin wirkende Läuferin gegeben. Anschließend wurde durch den Leichtathletik-Weltverband IAAF ein Geschlechtstest vorgenommen, der offenbarte, dass Semenya intersexuell ist und einen extrem hohen Testosteronspiegel aufweist. Diese biologisch bedingte Tatsache verschafft der Läuferin einen natürlichen Vorteil, der für Missmut bei manchen Konkurrentinnen und Pfiffe bei Teilen der Zuschauer in den Stadien sorgte.

Leben mit dem Misstrauen vieler Menschen

Bis zu den Augenblicken während der Siegerehrung der 4x100-Meter-Staffel wirkte die 25-Jährige angespannt. Semenya war bemüht, Coolness und Lockerheit auszustrahlen. Vor dem Rennen hatte sie ein wenig für die Kameras posiert, unmittelbar nach der Ziellinie riss sie die Arme nach oben und zeigte Gesten des Triumphes. Aber das wirkte einstudiert und nicht authentisch. Die Frau aus Südafrika muss seit vielen Jahren mit dem Misstrauen vieler Menschen leben, und das hat sie vorsichtig gemacht. Zügellose Gefühlsausbrüche waren deshalb nicht zu erwarten gewesen. Auch bei den Interviews nach dem Sieg wirkten die Antworten mechanisch und wenig emotional.

"Sport kann die Menschen vereinen", sagte die Olympiasiegerin beispielsweise. Oder: "Ich bin froh, Südafrika stolz gemacht zu haben. Ich hoffe, dass mein Erfolg die Kinder in meinem Land motiviert." Die Augen von Semenya verrieten ihre Unsicherheit und die Sorge vor den Fragen, die ihr seit Jahren immer wieder gestellt werden. "Hier geht es nicht um medizinische Themen, hier geht es um eine Sportveranstaltung", entgegnete sie auf eine Frage zu ihrem biologischen Vorteil. "Lassen Sie uns über das Rennen sprechen", forderte sie.

Lauf zur Goldmedaille eine Demonstration

Das Rennen hatte Semenya wie erwartet gewonnen. Etwa 600 Meter lief sie im Feld der anderen sieben mit, um knapp 200 Meter vor dem Ziel mühelos davonzuziehen. Ihre Konkurrentinnen konnten der Südafrikanerin nicht mehr folgen, Semenya flog dem Feld davon und der Ziellinie entgegen. Nach 1:55,28 Minuten war sie Olympiasiegerin, hatte ein Landesrekord aufgestellt und die Zweitplatzierte Niyonsaba aus Burundi um 1,2 Sekunden hinter sich gelassen.

Der Lauf zur Goldmedaille war eine Demonstration. Semenya wusste, dass sie den Zweifeln nicht davonlaufen konnte. Sie lief deshalb nicht für übergeordnete Ziele, sondern einfach nur für sich. "Es fühlt sich großartig an", sagte die Läuferin nach ihrem ersten Olympiasieg. Vor vier Jahren in London hatte Semenya die Silbermedaille gewonnen, in Rio schaffte sie den Sprung nach ganz oben.

Semenya lächelte in Rio, als sie das Podium betrat und die Ovationen der Menschen spürte. Die brasilianischen Zuschauer wurden in den vergangenen Wochen kritisiert, weil sie sich unfair verhielten, als es darum ging, Landsleute anzufeuern und deren Gegner auszubuhen. Bei der Siegerehrung des 800-Meter-Laufes der Frauen bewiesen sie ein feines Gespür für Würde. Semenya wirkte in diesem Moment unbeschwert - und für einen kurzen Augenblick glücklich. Es war ein olympischer Moment.

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