Handball-Trends Olympia war eine kleine Revolution

Torwart auf die Bank, dafür ein Feldspieler rein - beim olympischen Handballturnier war diese Taktik häufig zu beobachten. Die Analyse zeigt, dass es deshalb mehr Tore, weniger Vorlagen und mehr Zeitstrafen gab.
Von Karsten Görsdorf
Handball-Bundestrainer Dagur Sigurdsson

Handball-Bundestrainer Dagur Sigurdsson

Foto: ROBERTO SCHMIDT/ AFP

"Mal sehen, ob bei Olympia eine kleine Revolution kommt." Das hatte der deutsche Bundestrainer Dagur Sigurdsson zu den Regeländerungen vor dem olympischen Handballturnier gesagt. Nach zwei Turnierwochen zeigt die Analyse der 38 Spiele, dass es tatsächlich Trends gibt, die die Aussage von Sigurdsson bestätigen.

1. Trend: Höhere Effizienz

Der siebte Feldspieler muss nicht mehr mit einem andersfarbigen Trikot als Torwart-Ersatz gekennzeichnet sein. Auf diese Möglichkeit, ein Unterzahlspiel infolge einer Zeitstrafe im eigenen Angriffsspiel auszugleichen, griffen die meisten Trainer systematisch zurück. In Erinnerung blieben diverse Treffer ins verwaiste Tor bei Ballverlusten. Insgesamt führte die häufige Gleichzahl an Feldspielern jedoch zu einer Verringerung der Ballbesitzphasen um 5,8 Prozent, weil

  • die Wechsel der Spieler etwas mehr Zeit benötigten.
  • die Anzahl der erfolgreich abgeschlossenen Ballbesitzphasen durch die klareren Wurfsituationen anstieg.
  • die Anzahl an Ballverlusten sank.

Gleichzeitig stieg die Anzahl der erzielten Tore im Vergleich zu den Olympischen Spielen 2012 an: 2081 Treffer wurden in Rio erzielt (54,8 pro Spiel) - im Vergleich zu London mit 1983 Treffer (52,1 pro Spiel). Die zwölf Teams agierten in Rio somit insgesamt mit höherer Effizienz.

Foto: Institut für Spielanalyse

2. Trend: Individuelle Qualität der Spieler wird noch wichtiger

Das häufige Einsetzen eines zusätzlichen Feldspielers sorgte auch dafür, dass die Angriffe möglichst schnell abgeschlossen werden sollten. So kam es häufig schon in der sogenannten ersten Welle zum Torwurf - was durch die hohe individuelle Qualität der Rückraumspieler möglich wurde.

Im Vergleich zum Turnier London gingen in Rio die Torvorlagen um 13,2 Prozent zurück. Deshalb wird es zukünftig darauf ankommen, dass jeder Rückraumspieler in jeder Interaktion Torgefahr ausstrahlt, um entweder tatsächlich zu werfen oder für eine Überzahlsituation zu sorgen, die einem Mitspieler den Durchbruch oder freien Wurf ermöglicht. Trendsetter ist Olympiasieger Dänemark mit nur zwölf Assists pro Spiel bei durchschnittlich erzielten 28,8 Toren.

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Auf der anderen Seite kam es deshalb auch zu einer gestiegenen Anzahl von Zeitstrafen, Quantität und Vehemenz der Angriffe wurden von den Abwehrreihen mit mehr Härte beantwortet. Insgesamt waren es 367 Zeitstrafen (9,9 pro Spiel) im Vergleich zu 302 (7,9 pro Spiel) in London. Sehr gut hat sich auch hier Olympiasieger Dänemark auf die neue Situation mit durchschnittlich nur vier Zeitstrafen und drei Siebenmetern gegen sich eingestellt. Die deutsche Mannschaft handelte sich dagegen insgesamt 52 Zeitstrafen (6,5 pro Spiel) und fast fünf Siebenmetern pro Spiel ein - in der Verringerung der persönlichen Strafen könnte in den kommenden Jahren für Sigurdsson ein Schwerpunkt liegen.

3. Trend: Die veränderte Bedeutung der Kreis- und Außenspieler

Die neue Offensiv-Konstellation verlangt ein Verdichten des Abwehrzentrums. Die offensiveren Abwehrformationen - wie die 3-2-1- oder die 5-1-Deckung - waren in Rio selten ein probates Mittel. Deutschland tat sich zwar gegen auf diese Weise agierende Brasilianer schwer, einfache Tore zu erzielen. Frankreich demonstrierte im Viertelfinale hingegen, wie eine solche Abwehrformation durch ein breites Passspiel und Vehemenz beim Zug zum Tor vor dem Abschluss überwunden werden kann.

Dadurch gewannen, konträr zur Wichtigkeit der Rückraumspieler im zweiten Trend, bei lang ausgespielten Angriffen die Kreisläufer und die beiden Außenspieler an Bedeutung. Insgesamt nahmen in Rio Würfe aus dem Rückraum im Vergleich zu London um 15,7 Prozent ab. Auch der deutschen Mannschaft gelang es phasenweise in den Spielen, keinen Wurf über die Mitte oder die Halbräume zuzulassen. Die Würfe vom Kreis nahmen hingegen um 27,3 Prozent zu und sanken in der Erfolgswahrscheinlichkeit nur um zwei Prozent.

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Pro Partie sind über die Außenbahnen 1,3 weniger Tore als in London gefallen. Aber durch die vielen freien Würfe nach Passstafetten in Überzahl waren die Außen häufig der Schlusspunkt der jeweiligen Ballbesitzphase: zwölf Prozent mehr Torerfolge sind ein deutliches Indiz.

Der deutsche Rechtsaußen Tobias Reichmann, mit 41 Treffern (bei nur einem Siebenmeter) und nur einem Ballverlust ein Leistungsträger im DHB-Team, steht für diese Entwicklung. Durchschnittlich spielte Reichmann 54:44 Minuten. Er stand daher bei 91 Prozent aller deutschen Treffer auf dem Feld. Würde im Handball, wie in der NBA die Usage Rate berechnet, also die Anzahl der Ballbesitzphasen, in denen ein Spieler "genutzt" wird, um den Angriff positiv abzuschließen (durch Tor, Siebenmeter, gegnerisches Foul) im Gegensatz zu Ballverlusten (technischer Fehler, Fehlwurf, Offensivfoul), käme Reichmann auf einen Fabelwert von 0,67. Der liegt in etwas doppelt so hoch wie die des besten NBA-Spielers.

Das Institut für Spielanalyse

Das Institut für Spielanalyse arbeitet seit 2010 in der Nahtstelle zwischen Sportwissenschaft und Sportspiel-Praxis. Grundlage für die Analysen sind trainingswissenschaftliche sowie sportinformatorische Forschungsstrategien und Methoden, die dabei helfen, das Spiel zu lesen.

Zu den bisherigen Kunden zählen unter anderen die Deutsche Fußball Liga DFL, die Beko Basketball Bundesliga, der FC Augsburg, 1899 Hoffenheim oder der VfL Wolfsburg.

Seit 2015 bewertet das Institut für Spielanalyse unter der Marke Pro Facts für Fußballfans über den eigenen Facebook-  und Instagram-Kanal  die Leistung von Mannschaften vor, während und nach Spielen.

Für SPIEGEL ONLINE kommen diese während der EM 2016 in Frankreich zum Einsatz.

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