Anti-Doping-Kampf im Radsport "Wir graben sehr tief"

Radprofis Armstrong, Ullrich (bei der Tour 2005): Bewegung im Anti-Doping-Kampf
Foto: STEFANO RELLANDINI/ REUTERSFür den Profiradsport stellt der 10. Oktober 2012 etwas Ähnliches dar wie der 9. November 1989 für Deutschland. An jenem Herbsttag im vergangenen Jahr fielen mit der Veröffentlichung des Beweismaterials über die Dopingpraktiken der Rennställe von Lance Armstrong die Mauern des Schweigens, die der US-Amerikaner um sein jahrelanges Betrugsprogramm errichtet hatte. Sie fielen fast so, wie es der innerdeutsche Trennungswall nach der berühmten Pressemitteilung des SED-Funktionärs Günter Schabowski tat.
Doch während 1989 schnell klar war, dass sich mit dem Mauerfall die Welt ändern würde, rief die Bekanntgabe der "Reasoned Decision" der US-Anti-Doping-Agentur Usada zunächst nur gemischte Resonanz hervor. Von "gar keinen Auswirkungen" bis hin zu "Erdbeben" reichte die Bandbreite der Erwartungen.
Neun Monate später lässt sich konstatieren: Es hat sich eine ganze Menge getan, der Radsport ist kaum wiederzuerkennen. Armstrongs Verurteilung war zunächst durch eine Geständniswelle ehemaliger Teamkollegen vorbereitet worden. "Wenn noch mehr Leute offen über das reden würden, was sie getan haben, würde das dem Sport nur gut tun", sagte nach seiner Beichte Garmin-Profi Christian Van de Velde, der wegen Verletzungen gerade von der Tour de France abreiste.
"Wollen die ganze Dynamik begreifen"
Einige Kollegen taten ihm und dem gesamten Radsport diesen Gefallen. Vor der Wahrheitskommission des niederländischen Radsportverbands und der dortigen Antidopingagentur packten vor allem frühere und aktuelle Teammitglieder des Rabobank-Rennstalls aus. Tour-Etappensieger Michael Boogerd und Ex-Bergkönig Michael Rasmussen gaben Doping zu. Auch der Deutsche Grischa Niermann, viele Jahre Road Captain im Tour de France-Aufgebot der Holländer, gab Doping zu.
Bemerkenswert war die Analyse im Abschlussbericht der Kommission. "Wir müssen davon ausgehen, dass 80 bis 95 Prozent der Radprofis gedopt haben", wurde für die Hochdopingphase in den späten Neunzigern und frühen Nullerjahren festgestellt.
Bei den Anhörungen von Rasmussen war auch dessen dänische Landsfrau Lone Hansen anwesend. Die Direktorin der dänischen Anti-Doping-Agentur leitet derzeit eine Untersuchung über mutmaßliche Dopingpraktiken in den Rennställen von Bjarne Riis. Dort fuhr auch Rasmussen. "Wir graben sehr tief. Wir fangen in den neunziger Jahren an und wollen die ganze Dynamik begreifen", sagte Hansen SPIEGEL ONLINE. Zum eigenen Handeln sei sie durch die Usada-Ermittlungen inspiriert worden.
Riis gegen Antidoping-Agenturen mehrerer Länder
Das Verfahren gegen Riis gewinnt seine Brisanz dadurch, dass der Rennstallchef zwar Doping in seiner aktiven Zeit - damals beim Team Telekom - zugegeben hat. Für die von ihm geleiteten Rennställe CSC und Saxo Bank behauptete er jedoch stets einen "Mentalitätswechsel". Der ist jetzt in Frage gestellt. Beim Riis-Verfahren arbeitet Hansen mit den Anti-Doping-Agenturen aus Spanien, den Niederlanden, Italien und den USA zusammen. "Auch die deutsche Nada kommt mit ins Boot", sagte sie. Das Verfahren ist nur ein Beispiel, das zeigt, wie viel derzeit im Dopingkampf in Bewegung ist.
- Die Nada hat auch in Sachen Jan Ullrich zu tun. Der deutsche Rad-Star sah sich durch die Geständnisse der Kollegen zumindest zu einer Mini-Beichte veranlasst. Und im Prozess gegen den früheren Gerolsteiner-Profi Stefan Schumacher in Stuttgart zeichnet sich Anhörung für Anhörung immer deutlicher das Bild ab, dass im zweitwichtigsten deutschen Rennstall Doping wohl nicht nur von Einzelnen betrieben, sondern auch von Teamärzten geduldet und befördert wurde.
- Auch in Frankreich sind die Weichen auf Aufarbeitung gestellt. Eine Kommission des französischen Senats nahm sich der bereits im Jahre 2004 vorgenommenen Nachanalysen von Dopingproben der Tour 1998 an und will die positiven Fälle - insgesamt 44 - namentlich benennen. Zwar wurde die Veröffentlichung auf Drängen einer Fahrerabordnung auf einen Zeitpunkt nach dieser Tour verschoben. Aber dank einer ersten Indiskretion wurde laut L'Equipe eine der positiven Proben bereits dem heimischen Nationalhelden Laurent Jalabert zugeordnet. Und dieser ließ von seiner Tätigkeit als Kommentator beim französischen Fernsehen ab.
- Sogar innerhalb des Weltradsportverbands UCI ist Bewegung festzustellen. Das Murren gegenüber der langjährigen Strategie des Dopingverschweigens und -vertuschens nimmt zu. Der wegen seiner undurchsichtigen Rolle im Fall Armstrong heftig kritisierte Präsident Pat McQuaid hat mit dem Briten Brian Cookson erstmals einen Gegenkandidaten, der Transparenz zu seinem Programm erklärt hat.
Wenn dem Radsport der komplette Umbruch gelingen will, dann müssen auch im Weltverband unverbrauchte Leute in entscheidende Positionen kommen. Dass überhaupt so viel in Bewegung gekommen ist, war im Oktober 2012 aber nicht zu erwarten.