Schach-Kandidatenturnier Kreuzberger Partien sind lang

Die Großmeister schniefen, es gibt zu wenig Toiletten, und Albert Einstein bindet Schnürsenkel zusammen: Das Schach-Kandidatenturnier ist in Berlin völlig richtig aufgehoben.
Schach Kühlhaus in Berlin-Kreuzberg (hier: Wesley So gegen Ding Liren)

Schach Kühlhaus in Berlin-Kreuzberg (hier: Wesley So gegen Ding Liren)

Foto: imago/ Sebastian Wells

Schachmetropole Kreuzberg, das Kühlhaus in der Luckenwalder Straße. Gegenüber prangt ein riesiges Graffitigemälde, nebenan erinnert eine Gedenktafel daran, dass Rio Reiser hier gewohnt und mit seinen "Ton Steine Scherben" Musik gemacht hat. Macht kaputt, was euch kaputt macht. Drinnen im Kühlhaus steht ein Mann im Anzug und hält Schilder hoch, auf denen "Silence" steht.

Acht der besten Schachspieler der Welt sind in Kreuzberg eingezogen, sie sitzen um vier Tische herum, Trennwände sollen dafür sorgen, dass die zwei Duellanten von nichts abgelenkt werden, oben von der Empore schauen ihnen Menschen direkt auf den Kopf und auf das Schachbrett zwischen ihnen. Das Kandidatenturnier, das den Herausforderer von Weltmeister Magnus Carlsen ermitteln soll, lenkt den Blick der Schachwelt für zwei Wochen auf Berlin. Auf das Kühlhaus in Kreuzberg.

Zuletzt war hier die Fashion Week zu Gast, demnächst die Internetgemeinde zur Fachmesse re:publica. Das Kühlhaus ist das, was man eine Location nennt, auf der Webseite steht, es sei ein "Ort der Begegnung, der sich mit dem Herzschlag Berlins bewegt". In der direkten Nachbarschaft ist eine Craft Beer Manufaktur. Mit anderen Worten: Ein Ort, der als verdammt lässig gilt, aber letztlich vor allem ein großes Gebäude mit viel Hall und unverputzten Wänden ist. Die Zuschauer, die den Weg hierher gefunden haben, wirken nicht so, als wären sie auch sonst öfter hier. Erkennungszeichen: Jutebeutel.

Viele sind an diesem Tag ohnehin nicht gekommen, als um 15 Uhr die Partien der fünften Runde beginnen. Aber wer hat an einem ordinären Donnerstagnachmittag auch Zeit, Schach zu gucken? Das Publikum besteht aus Rentnern und Studenten.

Schach ist immer noch ein Männersport

Und kaum Frauen. Auch wenn überall Prospekte ausliegen, die Mädchen-Aktionswochen anpreisen und die Überschrift haben: "Coole Mädchen spielen Schach" - Schach ist immer noch ein Männersport. Wahrscheinlich weit mehr noch als Fußball.

Punkt 15 Uhr wird es mucksmäuschenstill, die Partien beginnen. Einige der Schachmeister am Brett hatten sich in den ersten Tagen über die Geräuschkulisse im Kühlhaus beklagt. Aber inzwischen machen sich die Spieler ihre Unruhe vor allem selbst. Der Chinese Ding Liren hustet, der Russe Alexander Grischuk schnieft. Das Kandidatenturnier findet im kalten Berliner März statt, Grippesaison. Dagegen sind auch die Größen des Geistes nicht gefeit.

Alexander Grischuk aus Russland

Alexander Grischuk aus Russland

Foto: Salah Malkawi/ Getty Images

Jeder von den acht Schachstars hat seine eigene Taktik, mit dem Druck, mit der Duellsituation umzugehen. Grischuk verlässt nach annähernd jedem Zug das Brett und lässt seinen Kontrahenten Lewon Aronjan aus Armenien allein, er schleicht herum, als ob es tausend Springer gäbe und hinter tausend Springern keine Welt. Er schlendert zu den anderen drei Brettern, um der Konkurrenz über die Schulter zu schauen. Immer wieder verlässt er die Manege, verdrückt sich in den Nebenraum. Grischuk hatte sich zuletzt noch beschwert, dass es nur eine einzige Toilette für die Spieler gäbe, und die sei auch noch meistens besetzt. Wir sind in Berlin.

114 Euro Eintritt in die Gold Zone

Auf der Empore drücken sich die Zuschauer herum, der Teppich schluckt ihre Schritte, die Mehrzahl der Besucher geht allerdings noch ein Stockwerk höher in die vierte Etage, wo sich Schachexperten simultan daran versuchen, ihnen jeden Zug zu erläutern. Sie stoßen dabei aber auch selbst an ihre Grenzen: "Für mich ist es noch ein Rätsel, wie Weiß sich hier entwickeln soll", grübelt der Eine. Und sein Kompagnon versucht ausführlich, Aronjans Zug zu dekodieren und kapituliert am Ende: "Aber das ergibt mit der Dame eigentlich gar keinen Sinn."

Großmeister Sergej Karjakin

Großmeister Sergej Karjakin

Foto: Maxim Shipenkov/ dpa

Noch eine Etage höher, unterm Dach, wird den Exklusivzahlern die Schachwelt erklärt. Wer beim Eintritt die Edelkategorie von 107-114 Euro Tagespreis hinblättert, darf in die "Gold Zone" und hier von den VIP-Kommentaren profitieren. Dort sitzen prominente Großmeister wie Judith Polgar und übersetzen dem Premiumpublikum, was dort unten auf den Brettern geschieht. Es gibt private Autogrammsessions mit den Spielern und exklusive Blitzturniere. Nebenan auf der anderen Seite des Vorhangs in einer mittleren Abstellkammer hocken die Fachjournalisten aus aller Welt, einige sind seit Jahrzehnten dabei, sie haben schon Anatoli Karpow zugeguckt, Viktor Kortschnoi und Lajos Portisch, Veteranen der Aljechin-Eröffnung. Im Presseraum wird so gut wie ausschließlich Englisch geredet. Jens Spahn würde sich hier möglicherweise unwohl fühlen.

Aronjan und Grischuk belauern sich, die Partie geht mittlerweile bereits in die vierte Stunde, die den Spielern bereitgestellten Wasserflaschen, die zu Beginn noch akkurat aufgereiht am Spielfeldrand waren, stehen und liegen jetzt wild durcheinander wie geschlagene Bauern. Auch Altmeister Wladimir Kramnik und sein Gegner Wesley So hinter der Trennwand nebenan haben sich regelrecht ineinander verhakt. Der Liveticker von SPIEGEL ONLINE erkennt: "Die kurze Rochade ist aber zweifelhaft für Schwarz in diesem Moment, da Weiß auf h4 schlagen würde und die sich öffnende Stellung am Königsflügel ausnutzen könnte mit einem Turm auf g1." Am Ende nach fast fünf Stunden Wettkampf enden alle vier Partien mit Remis.

Das Turnier nach Berlin zu verlegen, war auch eine Hommage an den einzigen deutschen Schachweltmeister Emanuel Lasker, der seinen Titel mehr als 25 Jahre bis in die Weimarer Zeit behielt. Im Foyer des Kühlhauses ist eine Lasker-Ausstellung aufgebaut. Man erfährt, dass Lasker einmal von dem großen Physiker Max Planck zu einer Partie herausgefordert wurde und dass "Albert Einstein unter den Stuhl von Planck kroch und dessen Schnürsenkel zusammenband". Hach, diese Genies, verrückte Typen. Irgendwie gehört Schach eben doch nach Kreuzberg.

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