Missbrauchsskandal im US-Turnen Verraten in Amerika

Was Simone Biles und ihre Teamkolleginnen leisten, wirkt übermenschlich. Wenn man weiß, wie die US-Turnerinnen jahrelang vom eigenen Verband im Stich gelassen wurden, sind die Leistungen unfassbar. Die Geschichte eines Verrats.
US-Turnstar Simone Biles klagt an: "Ihr hattet nur eine Aufgabe - und ihr habt uns nicht beschützt"

US-Turnstar Simone Biles klagt an: "Ihr hattet nur eine Aufgabe - und ihr habt uns nicht beschützt"

Foto: USA TODAY Sports/ REUTERS

Die beste Turnerin der Welt, Simone Biles, sitzt beim Training für die nationalen Meisterschaften der USA vor einer Traube von Journalisten. In einem Video ist zu sehen, wie sie mit Tränen in den Augen erklärt, wie schwer es für sie ist, für Verbände an den Start zu gehen, die die Sportlerinnen und Sportler so oft im Stich gelassen haben.

"Wir haben alles getan, was sie von uns verlangt haben, selbst wenn wir es nicht machen wollten", sagte die vierfache Olympiasiegerin und rief praktisch in Richtung aller für ihr Wohl verantwortlichen Verbände aus: "Ihr hattet nur eine Aufgabe - und ihr habt uns nicht beschützt."

Es ist zwei Jahre her, dass das US-Turnen von einem Missbrauchsskandal erschüttert wurde. Jahrzehntelang hatte Teamarzt Larry Nassar sich an jungen Sportlern vergangen, meist Mädchen und junge Frauen, und wurde wegen Kinderpornografie und sexuellen Missbrauchs von mindestens 250 Betroffenen in drei Prozessen zu einer Haftstrafe von 60 bis 175 Jahren verurteilt.

Aufgeflogen war er nicht, weil Schutzmechanismen eines Systems gegriffen hatten, sondern weil Aly Raisman, McKayla Maroney, Gabrielle Douglas, Jamie Dantzscher, Simone Biles und viele andere ihre Torturen öffentlich gemacht haben.

An dieser Stelle sei nur eine von vielen Schilderungen wiederholt, die damals Fassungslosigkeit darüber auslösten, wie eine vermeintliche Vertrauensperson die Unwissenheit von Teenagern jahrzehntelang hatte ausnutzen können. Maroney, die sich bereits zwei Jahre zuvor erstmals an die US-Ermittlungsbehörde FBI gewandt hatte, sagte , Nassar habe ihr auf dem Flug zur WM 2011 eine Schlaftablette verabreicht: "Das Erste, an das ich mich danach erinnerte, war dann, dass ich mit ihm alleine im Hotelzimmer war und eine 'Behandlung' erhielt. Ich dachte in dieser Nacht, ich sterbe." Maroney war zu diesem Zeitpunkt 15 Jahre alt.

Vertuscht, verschleppt, verschleiert

Und wie reagierten die für den Schutz der Kinder in ihrer Obhut verantwortlichen Personen?

USA Gymnastics (USAG) entließ Nassar trotz klarer Hinweise erst 2015, den Ermittlungsbehörden meldete der Verband den Fall erst fünf Wochen später. Steve Penny, von 2005 bis 2017 Präsident von USAG, wird nicht nur beschuldigt, lange vor den öffentlichen Anklagen von den Vorwürfen gegen Nassar gewusst zu haben. Ihm wird zudem vorgeworfen, er habe angeordnet, Dokumente verschwinden zu lassen, nachdem er von Ermittlungen gegen Nassar erfahren habe. Penny plädierte auf nicht schuldig.

Pennys Nachfolgerin Kerry Perry musste nach neun Monaten zurücktreten, nachdem sie wiederholt für zu laschen Umgang mit der Affäre kritisiert wurde und dann auch noch Mary Lee Tracy als neue Entwicklungskoordinatorin eingestellt hatte. Eine Trainerin, die Nassar noch nach Bekanntwerden der Vorwürfe als "großartig" bezeichnet hatte.

Zu Perrys Nachfolgerin wurde Mary Bono ernannt, die vor ihrer Verpflichtung für die Kanzlei gearbeitet hatte, die Nassar vor Gericht vertreten hatte. Sie hielt sich Mitte Oktober 2018 ganze vier Tage im Amt, nachdem ihr unter anderem von der dreimaligen Olympiasiegerin Raisman Vertuschung im Fall Nassar vorgeworfen wurde. Bono selbst beklagte in der Mitteilung über ihren Rücktritt  "persönliche Attacken", die zu einer Last für den Verband geworden wären.

Das US-amerikanische Olympische Komitee (USOC) kündigte wenige Wochen später an, es habe die nötigen Schritte eingeleitet, dem Turnverband den Status als nationale Dachorganisation abzuerkennen. Einen Monat später, im Dezember 2018, erklärte der Turnverband Insolvenz.

Simone Biles beim Training vor der Turn-WM in Stuttgart

Simone Biles beim Training vor der Turn-WM in Stuttgart

Foto: THOMAS KIENZLE / AFP

Währenddessen turnen viele Sportlerinnen weiterhin für diese Organisationen, in die sie längst jedes Vertrauen verloren haben, gewinnen WM- und Olympiamedaillen. Auch Superstar Biles strahlt weiter, leistet Erstaunliches, manchmal Historisches. Damit ist auch bei der WM in Stuttgart ab Freitag zu rechnen. Aber ist deswegen alles wieder in Ordnung?

Biles wird wie alle "Survivor", wie sich viele Betroffene in Abgrenzung zur ihnen oft zugeteilten Opferrolle bezeichnen, mit den Wunden leben müssen. Jedes Mal, wenn sie zum Arzt gehe, fürchte sie sich: "Wir versuchen, es zu verarbeiten. Aber es wird dauern", sagte die 22-Jährige und ergänzte: "Ich bin stark, ich werde es schaffen, aber es ist hart."

Umso erschreckender ist das, was in den vergangenen Jahren geschehen oder besser gesagt: nicht geschehen ist. Turnverband und Olympisches Komitee, die Michigan State University, die Nassar zu lange beschäftigte, sowie die US-Ermittlungsbehörde FBI hätten die Betroffenen "fundamental im Stich gelassen". Zu diesem Schluss kam ein Kongressbericht nach einer 18-monatigen Untersuchung des Falls Nassar. "Schreckliche Dinge sind passiert", sagte Senator Jerry Moran dem TV-Sender "NBC": "In vielen Fällen wurden diese gemeldet, und fast ausnahmslos haben die Leute, denen sie gemeldet wurden, nicht reagiert." Sportverbände, Behörde, Universität - sie alle hatten "die Möglichkeit, Nassar zu stoppen, aber sie taten es nicht".

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Und der Skandal im Turnen war längst nicht der einzige, noch der erste in den olympischen Organisationen der USA. Sportarten wie Schwimmen, Taekwondo, Eisschnelllauf und Judo wurden bereits vor dem Nassar-Skandal wegen Missbrauchs der ihnen anvertrauten Athleten zur Rechenschaft gezogen. Medienberichten zufolge ermittelt nun die US-Justizbehörde zu sexuellem Missbrauch im olympischen Sport. Die Behörde prüfe "in großem Stil Fehler im olympischen System, um auf Anzeichen von weitverbreitetem Kindesmissbrauch zu reagieren", heißt es.

Es ist ein Wunder, dass die "Survivors" immer noch strahlen.

Alles Wichtige zur Turn-WM finden Sie hier.

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