Sport in Deutschland Wo Klootschießen den Fußball schlägt

Einschaltquoten, Fans, Gehälter: Fußball scheint hierzulande jede andere Sportart zu schlagen. Eine Datenanalyse des SPIEGEL zeigt, wo die Fußballer nicht die Nummer eins sind.
Die Boßel-Mannschaft "Hier up an Westeraccum" bei einem Ligaspiel

Die Boßel-Mannschaft "Hier up an Westeraccum" bei einem Ligaspiel

Foto: Mohssen Assanimoghaddam/ dpa

Etwas mehr als ein halbes Jahr noch bis zu den olympischen Spielen in Tokio - dann wird wieder quer durch die Republik angeregt über Taekwondo, Rudern und Fechten diskutiert werden. Bis dahin bleibt Fußball Deutschlands Sportart Nummer eins. Oder?

Eine Datenanalyse des SPIEGEL zeichnet ein durchaus differenzierteres Bild: Mitgliederzahlen aller Landesverbände und die Zuschauerzahlen der größten Ligen geben Auskunft darüber, in welchen Landesteilen welche Sportarten besonders populär sind. Und da gibt es einige Überraschungen.

Fußball und Turnen dominieren den Vereinssport

Beim Blick auf die Mitgliederzahlen ist Sport-Deutschland zweigeteilt: Entweder wird geturnt oder gegen den Ball getreten. Das ist wenig verwunderlich, denn der Deutsche Turner-Bund vertritt nicht nur klassische Disziplinen wie Bodenturnen, Reck oder Barren, sondern auch Turnspiele wie Völkerball und Faustball. Zudem fallen viele Breitensportangebote wie Kinderturnen in das Aufgabengebiet des Verbandes.

Der Fußball profitiert dagegen von seinen Fans. In ihren Meldungen trennen deutsche Verbände nicht nach passiven und aktiven Mitgliedern einer Sparte. So zählt der aktive Sportler genauso viel wie der Fan, der in erster Linie für ein Ticket-Vorverkaufsrecht zum Mitglied wurde. Kein Wunder, dass die größte Fußball-Dominanz in den Bundesligastädten Gelsenkirchen, Mönchengladbach, Dortmund und München zu finden ist. Jeweils weit mehr als die Hälfte der gemeldeten Sportvereinsmitglieder gehört hier zur Sparte Fußball.

Skisport, Wassersport, Friesensport

Eine Handvoll Landkreise gibt es aber doch, in denen weder der Fußball- noch der Turner-Bund die meisten Mitglieder zählt. Dass in Garmisch-Partenkirchen der Skisport führend ist, wird die wenigsten Sportfans noch überraschen. Der Austragungsort des Neujahrsspringens der Vierschanzentournee und mehrerer Disziplinen des Alpinen Skiweltcups dürfte jedem Wintersportfan ein Begriff sein.

Dass in Krefeld der Wassersport dominiert, hat auch eine einfache Erklärung: Mit dem SV Bayer Uerdingen hat hier der größte Schwimm- und Wassersportverein Deutschlands seinen Sitz. Fast 10.000 Mitglieder schwimmen an diesem Landesstützpunkt oder betreiben eine der anderen Wassersportarten. So unter anderem auch Wasserball. Hier stellt der Verein sowohl bei den Herren als auch bei den Damen eine Bundesligamannschaft. Die Frauen holten zwischen 2012 und 2017 gar sieben Meisterschaften in Folge - in der abgelaufenen Saison wurden sie Zweite.

Die wohl ungewöhnlichste Nummer eins hat der niedersächsische Landkreis Wittmund: Klootschießen und Boßeln. Beim Klootschießen laufen die Sportler auf eine Rampe zu, springen von dieser ab und versuchen im Sprung eine kleine Kugel so weit wie möglich zu werfen. Die friesische Sportart ist schon jahrhundertealt und wurde in ihrer langen Geschichte immer wieder von Obrigkeiten verboten.

Früher fanden die Klootschießen-Wettkämpfe ausschließlich bei Frost statt und die Teilnehmer traten lediglich mit Unterhemden und langer Unterhosen bekleidet an - warmgehalten durch viel Schnaps. So wurde die Sportart von Lungenentzündungen und teils blutigen Auseinandersetzungen betrunkener Klootschießer begleitet. Später entwickelte sich aus den Wettkämpfen die heute vielerorts als Boßeln bekannte Mannschaftssportart. Das Klootschießen selbst wird heute noch vor allem in Ostfriesland und Oldenburg ausgetragen.

Dass in Cottbus, Gera und Leipzig der Behinderten- und Rehasport die meisten Meldungen hat, liegt unter andrem daran, dass dort größere Vereine ihren Sitz haben, die als Zentren für komplette Regionen fungieren. Auch das Angebot einzelner Bundesländer fördert die Mitgliederzahlen: In Brandenburg werden Rehamaßnahmen vorwiegend von gemeinnützigen Vereinen angeboten, während es in anderen Bundesländern vermehrt kommerzielle Anbieter gibt. Eine Mitgliedschaft im zuständigen Verein ist zwar keine Pflicht, dennoch entscheiden sich viele Patienten dafür.

Stadtsport, Ostsport, Erfolgssport

Blickt man jeweils einzeln auf die Sportarten, lassen sich immer wieder Hochburgen oder größere regionale Tendenzen entdecken. Häufig gehen sie einher mit erfolgreichen Vereinen in der jeweiligen Region.

Ganz grob kann man Deutschland in Handball- und Fußball-Regionen aufteilen - während der Süden und Westen eher fußballdominiert sind, finden sich die meisten Handball-Hochburgen im Norden und Osten des Landes. Durchbrochen wird diese Aufteilung nur von Standorten großer Vereine wie der Handballklubs Balingen-Weilstetten in Baden-Württemberg oder Lemgo in Nordrhein-Westfalen.

Noch enger an Erfolgsvereine geknüpft sind die Mitgliederzahlen im Basketball. Die Sportart ist bislang ein Stadtphänomen, das in DBL-Standorten wie Bamberg, Frankfurt am Main und Oldenburg auch besonders viele Sportler anzieht. Die Spitzen sind so über das gesamte Land verteilt, strahlen aber kaum in die anliegenden Regionen aus.

Die stärksten regionalen Unterschiede aller Ballsportarten finden sich beim Volleyball und Tennis. Volleyball ist traditionell im Osten Deutschlands deutlich stärker als im Westen. Auch wenn die Sportart ursprünglich aus den USA stammt, wurde sie über Jahrzehnte von der Sowjetunion und anderen osteuropäischen Staaten dominiert.

1969 legte die SED in einem Leistungssportbeschluss fest, welche Sportarten in der DDR gefördert und welche vernachlässigt werden sollten. Volleyball war unter den geförderten Sportarten und so wurde die DDR-Mannschaft der Männer 1970 Weltmeister, das Frauenteam 1983 und 1987 Europameister. Die BRD holte dagegen bis zur Wiedervereinigung keine Medaille. Auch heute noch stellen bei den Frauen die ostdeutschen Vereine SSC Palmberg Schwerin und Dresdener SC die meisten Spielerinnen der Nationalmannschaft.

Die Folgen der DDR-Sportpolitik

Auch die regionale Verteilung anderer Sportarten lässt sich mit dem Leistungssportbeschluss der DDR erklären. So sind die damals geförderten Sportarten Judo und Handball auch heute noch in östlichen Bundesländern besonders stark. Tennis wurde dagegen aus der Förderung entfernt und ist auch heute eine klar westdeutsche Sportart. Während Boris Becker und Steffi Graf für einen riesigen Aufschwung im westdeutschen Tennis sorgten, durfte der 48-malige DDR-Meister Thomas Emmerich zu keinen Turnieren im Ausland reisen. Tennis war nicht als Leistungssport anerkannt und Emmerich trotz seines Könnens damit kein Profi.

Dem Leistungssportbeschlusses der DDR getrotzt hat der Kegelsport. Als nicht olympische Sportart wurde auch hier Ende der Sechzigerjahre die Förderung gestrichen. Dabei zählte die DDR damals zur absoluten Weltspitze im Kegeln. Bei ihrer ersten WM-Teilnahme 1955 gewannen sie drei von vier Titeln und holten bis 1972 insgesamt 36 WM-Medaillen. Nach 1972 war allerdings Schluss und die Mannschaften durften nicht mehr zu internationalen Turnieren fahren. Der Erfolg des Kegelns wurde so zwar gedämpft - die Sportart überlebte aber im Breitensport. Bis heute wird in Brandenburg, Sachsen, Thüringen und Sachsen-Anhalt besonders viel gekegelt.

Auch für einige der weiteren untersuchten Sportarten lassen sich regionale Schwerpunkte ausmachen. Schützenfeste gehören heute vor allem in Niedersachsen und Bayern zum Alltag und so widmen sich hier auch besonders viele Sportler dem Schießsport. Der Pferdesport ist dagegen unter anderem im Norden, in den Regionen der erfolgreichen Pferderassen, besonders beliebt - bei den Hannoveranern, Oldenburgern oder Holsteinern.

Sportdeutschlands bunte zweite Reihe

Bei den Zuschauerzahlen dominieren auf den ersten Blick natürlich die Fußballvereine - zumindest in der Spitze. Vergleicht man die durchschnittlichen Zuschauerzahlen aller Sportvereine pro Heimspiel, kommt erst auf Platz 34 der erste Nichtfußballverein: die Eisbären Berlin aus der Deutschen Eishockey Liga. Trotzdem ist Fußball lange nicht in allen Städten die Nummer Eins.

Insgesamt gibt es deutschlandweit aktuell 261 Sportvereine in 156 Städten, die im Schnitt pro Heimspiel mehr als tausend Zuschauer anlocken. Davon sind nur gut ein Drittel Fußballteams. Die restlichen zwei Drittel verteilen sich auf Vereine aus den Sparten Handball, Eishockey, Basketball, American Football und Tennis. Mit Borussia Düsseldorf gibt es zudem auch ein Tischtennisteam mit mehr als tausend Zuschauern.

Von den 156 Städten mit Zuschauermagneten, liegt der Fußball in 69 Städten auf Platz eins. Dahinter folgen Handball (in 34 Städten), Eishockey (24) und Basketball (18). Das Schlusslicht bilden Volleyball (6) und American Football (5).

Deutlich abgeschlagen sind in fast jeder Sportart die Teams der Frauen. Die Eishockey-Bundesliga kommt im Schnitt nicht einmal auf hundert Zuschauer pro Spiel, beim Basketball sind 800 bereits eine Rekordkulisse, und gerade einmal fünf Klubs der Fußball-Bundesliga schaffen es über den Tausend-Zuschauer-Schnitt.

Auf Augenhöhe liegen die Zuschauerzahlen nur im Volleyball. Der Dresdener SC zieht pro Heimspiel der Damen mehr als 2700 Zuschauer an und liegt damit auf Platz eins unter allen Frauenteams. In der eigenen Sportart müssen sie sich nur hinter dem Männerteam der Berlin Recycling Volleys einreihen.

In die Zuschauerstatistik gehen dabei erstmal nur die Sportarten mit einem Ligabetrieb ein. Daneben erreichen natürlich auch viele Einzelevents über das Jahr verteilt beeindruckende Zuschauerzahlen. Zur Vierschanzentournee kommen pro Springen um die 20.000 Zuschauer, den Grand Prix der Springreiter der CHIO Aachen sahen zuletzt um die 40.000 und am Renntag des deutschen Formel-1-Grand-Prix kamen im letzten Jahr 71.000 Rennsportfans an den Hockenheimring. Punktuell locken also noch viel mehr Sportarten große Zuschauermengen an.

Auch wenn der Fußball wenig überraschend in der Spitze Deutschland dominiert, ist Sport-Deutschland in der zweiten Reihe bunt und regional vielfältig.

Die Mitgliederzahlen der einzelnen Kreise gehen jeweils auf Daten der sechzehn Landessportbünde und einiger regionaler Untergruppierungen (Sportbünde, Kreissportbünde, Stadtsportbünde) zurück. Diese wurden zusammengetragen und in Benennung und Aufteilung der Sparten vereinheitlicht.

Für Mecklenburg-Vorpommern, das Saarland und den Sportbund Pfalz liegen keine nach Landkreisen näher aufgeschlüsselten Daten vor. Ein weiterer Sonderfall ist der Schießsport in Bayern: Als einziges Bundesland sind die Sportschützen hier keine Mitglieder im Landessportbund und fallen somit aus der Statistik. Stattdessen wurden in dieser Analyse die Zahlen des Bayerischen Sportschützenbundes verwendet, der aber nicht in Landkreisen sondern in anders zugeschnittenen und nicht vergleichbaren Gauen organisiert ist.

Die Zuschauerzahlen stammen von den offiziellen Seiten der Ligen bzw. Verbände.

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