Heimlicher Superstar Boll Der Meister der Tischkultur

Timo Boll geht in Budapest seine 14. Tischtennis-WM an. Der 38-Jährige ist ein Superstar seines Sports und gehört trotzdem immer noch zu den Übersehenen in der Öffentlichkeit. Warum eigentlich?
Timo Boll hat immer den Ball im Blick

Timo Boll hat immer den Ball im Blick

Foto: Abel F. Ros/DPA

Dieser Text beginnt mit einer Selbstanzeige. Vor zwei Wochen hat SPIEGEL ONLINE angesichts des Abschieds von Basketball-Crack Dirk Nowitzki eine Hall of Fame der 20 größten deutschen Sportler zusammengestellt - und Timo Boll war fahrlässigerweise nicht dabei. Obwohl ein siebenfacher Europameister, ein Olympia- und WM-Medaillengewinner, ein dreifacher Weltranglistenerster an sich genug Argumente geliefert hat, in diese Ehrengalerie aufgenommen zu werden.

Es gehört zu Timo Bolls Karriere, zu den Unterschätzten, manchmal gar Übersehenen in der Öffentlichkeit zu gehören. Immer noch, nach all den Jahren. Dabei ist der Vergleich mit Nowitzki durchaus zulässig: Beide blicken auf eine lange Erfolgslaufbahn zurück, beide waren Fahnenträger der deutschen Mannschaft bei Olympischen Sommerspielen, beide sind Superstars im Ausland: Nowitzki allerdings in der Vermarktungsmaschine NBA, Boll hingegen "nur" in China.

Im Tischtennis ist eben alles ein bisschen kleiner, nicht nur der Ball. In Budapest haben soeben die Weltmeisterschaften begonnen, für Timo Boll ist es die sage und schreibe 14. WM, an der er teilnimmt. Der Deutsche reist nicht als Topfavorit an, er hat in den vergangenen Wochen nicht unbedingt Bestform bewiesen, aber das war vor der EM im Vorjahr in Alicante auch so. Am Ende hieß der Europameister wieder einmal Timo Boll.

Er sagt selbst, er sei "schon öfter zu Turnieren in keiner guten Verfassung gekommen, und am Ende waren es meine stärksten". Dennoch sind im Einzel der Männer die wieder erstarkten Chinesen Fan Zhendong und Ma Long sowie die Japaner um das 15-jährige Wunderkind Tomokazu Harimoto die ersten Anwärter auf WM-Gold.

Boll als Fahnenträger bei den Sommerspielen in Rio 2016

Boll als Fahnenträger bei den Sommerspielen in Rio 2016

Foto: Kai Pfaffenbach/REUTERS

Boll ist mittlerweile 38 Jahre alt, 23 Jahre älter als Harimoto, aber das muss im Tischtennis nicht unbedingt etwas heißen. Heroen der Sportart wie der Schwede Jan-Ove Waldner haben noch mit 40 Höchstleistungen gebracht, der Weißrusse Wladimir Samsonov ist mittlerweile 43 und spielt noch immer auf hohem Niveau, und Bundestrainer Jörg Rosskopf beendete seine aktive Laufbahn erst mit 41. Boll ist mit 37 noch einmal an die Spitze der Weltrangliste geklettert, in diesem Alter ist das noch niemandem vor ihm gelungen.

Drei Deutsche unter den Top 20

2003 stand Boll schon mal auf der Position eins der Welt, seitdem hält er sich ununterbrochen unter den besten 15 Spielern weltweit. In seinem Schatten wuchsen die Landsleute Dimitri Ovtcharov und Patrick Franziska zu Topspielern heran. Noch nie zuvor hatte Deutschland drei Spieler unter den besten 20 der Welt wie derzeit.

Alles wäre eigentlich bereitet für einen Tischtennisboom, trotzdem schafft es die Sportart nie so richtig aus der Nische. Dabei hatte Tischtennis immer schon die Voraussetzungen, um groß herauszukommen. Die Regeln sind einfach, jeder kann es spielen, in jedem Freibad und in jeder Werbeagentur steht eine Tischtennisplatte herum, die spektakulären Ballwechsel der Besten sind Klick-Hits bei Youtube.

Dem Tischtennis fehlt allerdings das Glamouröse, die Spieler sind längst nicht so cool wie die Basketballer, bei denen das Quietschen der Turnschuhe auf dem Hallenboden der Soundtrack ist. Und vielleicht passt auch deshalb Timo Boll so ideal zu dieser Sportart: Boll lebt im beschaulichen Odenwald, sein Privatleben ist genau das: nämlich privat. Er macht keine Schlagzeilen, er bringt nur Leistung. Jahr für Jahr. Im ZDF gab es mal eine Sendereihe über Nobelpreisträger, sie hieß "Die stillen Stars", Boll ist eine Art Nobelpreisträger des Sports.

Immer den Erfolg im Auge

Immer den Erfolg im Auge

Foto: Tibor Ilyes/AP

Deutschland hat viele gute Tischtennisspieler gehabt, manche sehr gute: Peter Stellwag, Eberhard Schöler, Wilfried Lieck, den langhaarigen Engelbert Hüging, Ralf Wosik, Georg Böhm, Rosskopf, Speedy Fetzner. Aber so einen wie Timo Boll, den gab es nie.

Eine Einzelmedaille bei einer WM, die hat er bereits in seiner umfassenden Sammlung, 2011 war das. Diesmal sind seine Aussichten, ganz vorne mitzuspielen, im Doppel noch etwas größer als im Einzel. An der Seite von Patrick Franziska gehört er zu den dezidierten Anwärtern aufs Halbfinale, das Duo schlägt sich damit auch warm für die Olympischen Spiele im kommenden Jahr in Tokio. Tischtennis im von dieser Sportart begeisterten Japan - das dürfte eine der ganz großen Nummern bei den Sommerspielen 2020 werden.

In Fernost hat sich Boll immer wohlgefühlt, zwei Jahre spielte er in der chinesischen Super League. Das ist auch schon wieder 15 Jahre her, aber dort erfährt er die Wertschätzung, die ihm in Deutschland zuweilen abgeht.

Boll war noch nie Deutschlands Sportler des Jahres, das kann man sich eigentlich gar nicht vorstellen. So wie man sich Tischtennis in Deutschland ohne Timo Boll nicht mehr vorstellen kann.

In einer früheren Version des Textes waren die Namen der chinesischen Topspieler nicht korrekt wiedergegeben. Wir haben diesen Fehler korrigiert. 
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