Radarfallen im Radsport Blitzer gegen Doping

Ex-Radprofis Ullrich (l.) und Armstrong: Überführte Dopingsünder
Foto: Gero Breloer/ DPAFahren die sauber oder nicht? Diese Frage fährt bei jeder Tour de France mit. Meist wird sie eindeutig beantwortet. Je nach Neigung, Vorwissen und Vor-Urteil steht dann ein festes "Ja" oder ein ebenso festes "Nein" im Raum. Damit könnte bald Schluss sein.
Der Leistungsdiagnostiker Antoine Vayer hat in der Vergangenheit Höchstleistungen von Tour-de-France-Gewinnern im Gebirge ermittelt und vergleichbar gemacht. Er hat aus diesen Berechnungen und aus eigener Erfahrung Grenzen bestimmt, ab denen eine Leistung "verdächtig", "wundersam" oder gar "mutant" ist.
Vayer hat seine Erfahrungen mit Epo-Doping im Festina-Rennstall gemacht, jenem Team, dessen rollendes Pharma-Lager 1998 Auslöser des gleichnamigen Skandals war. "In meinen drei Jahren dort habe ich mit 24 Fahrern zusammengearbeitet. Ich habe gesehen, zu welchen Leistungen die Gedopten fähig waren und wie gut sie ohne Doping waren", sagte Vayer SPIEGEL ONLINE.
Die Grenzen, die er eingeführt hat, liegen bei 410 (gelb markiert), 430 (orange) und 450 Watt (rot). Sie beziehen sich auf einen Anstieg, der nach mindestens fünf Stunden Pedalarbeit im Sattel erklommen wird. Die Kletterei selbst soll mindestens 20 Minuten dauern. In seinem Magazin "Nicht Normal" setzt er vor allem in den späten neunziger Jahren viel rote Farbe ein, um den "Mutantenradsport" zu markieren.
Armstrong 1999 im grünen Bereich
Bei den Jahren davor und danach überwiegen orange und gelbe Farbtöne für "wundersame" und "verdächtige Leistungen". Ab und an bricht sogar grüne Farbe durch, selbst bei Lance Armstrongs erstem Toursieg 1999. "Grün bedeutet nicht, dass ein Fahrer nicht gedopt hat. Von Armstrong wissen wir ja sogar das Gegenteil. Es heißt nur, dass diese Leistung physiologisch möglich war", erklärt Vayer.
Interessanter noch als die Berechnungen zu vergangenen Leistungen könnte der Einsatz dieses Instruments in der Gegenwart sein. Vayer hat für die kommenden Anstiege der Tour de France Normzeiten kalkuliert, die seinen Grenzwerten "mutant", "wundersam" und "verdächtig" entsprechen. Beim Aufstieg nach Ax-3-Domaines am Samstag liegt für ihn alles ab 25:10 Minuten im grünen Bereich, bei Zeiten unter 24:12 Minuten beginnt die "wundersame" Zone und ab 23:20 Minuten das Reich der "Mutanten". Der Aufstieg beginnt in Ax-Les-Thermes, 400 Meter nach Passieren der Ariege.
Am Sonntag, beim 10,8 Kilometer langen Aufstieg zur Hourquette d'Ancizan, dem letzten von fünf Bergen, liegt laut Vayer die normale Grenze bei 30:05 Minuten. "Wundersam" wird es nach 28:53 Minuten, "mutant" nach 27:52 Minuten.
Im Fahrerfeld und im Tross der Tour de France stoßen Vayers Berechnungen und Prognosen auf unterschiedliche Resonanz. "Kein Kommentar zu diesem Mann", winkt Alain Gallopin, sportlicher Leiter von RadioShack, genervt ab. Skeptisch bleibt auch Katusha-Boss Wjatscheslaw Jekimow. Der frühere Armstrong-Helfer kritisiert, dass Vayer nicht den Wind berücksichtige. "In der Halle mag das gehen, doch unter freiem Himmel macht es einen Unterschied, ob dir der Wind ins Gesicht bläst oder dich von hinten schiebt", sagt der ehemalige Verfolgungsweltmeister.
Ein "interessantes Tool"
David Millar, Profi beim Rennstall Garmin und nach seiner Dopingbeichte ein beredter Aktivist für den sauberen Sport, hält die Methode hingegen für ein "interessantes Tool". "Wir haben dadurch zwar nicht schwarz auf weiß Beweise, aber wir können Tendenzen erkennen", sagt er. Und auch wenn Omega-Entwicklungsdirektor Rolf Aldag wie Jekimow die fehlende Kalkulation des Windes bemängelt, so glaubt er doch, dass die Berechnungen Aufschluss geben könnten über die Art und Weise, wie heutzutage Leistungen erbracht werden.
In der Sportwissenschaft ist Vayers Radarfalle noch nicht angekommen. "Die Methode ist nach den Daten, die ich vorliegen habe, nicht in der breiten Diskussion", sagte der Frankfurter Sportwissenschaftler Dennis Sandig SPIEGEL ONLINE. Sandig warnt auch vor dem Ansatz, von Leistungsdaten auf Vorgänge im Körper zu schließen. "Man muss die Physik von der Physiologie trennen. Mich interessiert vor allem, was im Körper selbst passiert und nicht, was ich dann an Leistungsdaten messen kann."
Sandig ist allerdings bei seinen Studien auf Tendenzen gestoßen, die Vayers Berechnungen für die Vergangenheit des Profiradsports bestätigen. "Wir hatten in den späten Neunzigern Wunderwerte bei der Sauerstoffaufnahmefähigkeit von Spitzensportlern. Diese Werte werden jetzt nicht mehr erreicht. Das ist spannend. Genetisch hat sich der Mensch in den letzten zehn Jahren ja nicht zurückentwickelt", so Sandig.
Schritt in Richtung Transparenzzeitalter
Als einen Detektor für Auffälligkeiten im Gesamtpeloton hält der Diagnostiker, der auch den für Europcar-Profi Björn Thurau arbeitet, Vayers Ansatz aber für interessant. "Wenn da im Peloton größere Sprünge von einem Jahr zum anderen erkennbar sind, sollte man aufmerksam werden", sagt er.
Festnageln sollte man auf Basis dieser Methode allerdings niemanden. Denn selbst ein Dopingjäger wie Michel Rieu, Berater der französischen Antidopingagentur AFLD, die aktuell die Dopingtests der Tour de France vornimmt, hält Vayers Methode nicht für ausreichend, um Sanktionen auszusprechen. Er hält sie aber für geeignet, "Risikopersonen zu identifizieren".
Vayer selbst will vor allem eine Debatte anstoßen: "Ich sage nicht, ob jemand gedopt hat oder nicht. Ich sage nur, das war rot oder orange oder grün. Und dann sollten die Journalisten und die Öffentlichkeit die Fahrer fragen. Es ist ein Versuch, mit diesem Thema zu einem anderen Umgang zu kommen."
Der Radar zur 100.Tour de France könnte ein Schritt in ein Transparenzzeitalter in diesem Sport sein.