Tour-Führender Rasmussen Die einsame Spitze
Michael Rasmussen ahnt, was ihn erwartet. Nervös zupft der Däne an seinem gelben Trikot herum. Auf den Lenker gestützt, den Kopf gesenkt, erwartet der 33-Jährige mit verkniffener Miene den Start zur 16. Etappe der Tour der France. Es ist jener besonders schwere Abschnitt durch die Pyrenäen hoch zum Col d'Aubisque, der voraussichtlich über den Sieg in diesem Jahr entscheiden wird. Heute ist der Tag, an dem Rasmussen die Tour gewinnen kann. Doch der Sieg würde nichts wert sein.
Als der Spitzenreiter der Frankreich-Rundfahrt nach ein paar Minuten Verzögerung endlich in die Pedale tritt, da ertönt wenig Beifall, aber viele Pfiffe und laute Buhrufe vom Straßenrand, wo sich die Zuschauer dicht an dicht drängeln. Der kleine Ort Orthez ist eines jener südwestfranzösischen Dörfer, in denen das Publikum dem Start besonders begeistert entgegenfiebert. Jeder Reklamewagen auf der abgesperrten Strecke wird lange vor dem Rennbeginn mit La Ola und Sprechchören gefeiert. Aber nicht Rasmussen.
An diesem Morgen in Orthez wird klar, dass auch das Publikum einen Unterschied macht: Es liebt die Tour, aber längst nicht mehr jeden, der dort fährt. Doch der dringend dopingverdächtige Rasmussen, der Pressekonferenzen mittlerweile an der Seite seines Anwalts abhält, ist nicht nur bei den Zuschauern durchgefallen, sondern auch zunehmend unter den Fahrern isoliert. Als er losfährt, da rollen vier, fünf Getreue langsam hinterher - und alle anderen bleiben stehen. Sogar unter den Journalisten wird da vor Begeisterung über den Protest gejohlt.
Die Spaltung des Feldes sitzt aber noch viel tiefer. Die Fahrer der sechs französischen und zwei deutschen Teams, die gestern bei einer Sitzung ihr bisher loses Bündnis gegen Doping festigten, baten die anderen Profis demonstrativ nach vorne und ließen sie ziehen. Für das deutsch-italienische Team Milram, das nicht zu diesem Bündnis zählt, fuhr Kapitän Erik Zabel voran.
Erst als all die anderen verschwunden waren, starteten die Fahrer von T-Mobile, Gerolsteiner, La Française des Jeux, Bouygues Telecom, Agritubel, Crédit Agricole, Ag2r und Cofidis. Das Zeichen war klar: Am Tag nach dem Winokurow-Skandal zerfällt die Tour de France endgültig in zwei Teile.
Was die Fahrer vom Kasachen denken, der lange wegen seiner Entschlossenheit und seines kämpferischen Stils einen guten Ruf unter den Profis besaß, machte Anthony Charteau von Crédit Agricole noch an der Startlinie deutlich: "Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll, ich weiß nicht, was ich denken soll. Aber ich empfinde ein tiefes Gefühl der Verachtung."
Gerolsteiner-Fahrer Sven Krauss beschreibt wenige Meter entfernt die Hilflosigkeit der Akteure: "Ich lese ja auch jeden Morgen in der Zeitung, was passiert, welche Beweise es gibt. Ich lese das ganz genau. Aber soll ich jetzt hingehen zu Rasmussen oder Alberto Contador und mit dem Finger auf sie zeigen? Ich kann die nicht rausschmeißen. Ich frage mich, wer will die überhaupt rausschmeißen?".
Der Unmut der Teamleiter richtet sich zunehmend gegen die Organisatoren der Tour de France, die etwa Gerolsteiner-Chef Hans-Michael Holczer gestern bereits in TV-Interviews kritisiert hatte. Heute griff er sie erneut an: "Es ist an der Zeit, dass die Veranstalter genau wie wir Teams sich auch finanziell engagieren und vielleicht mal ein Fünftel des Jahresüberschusses riskieren, um gegen den einen oder anderen Fahrer vorzugehen" - auch wenn es juristisch kompliziert zu werden droht wie bei Rasmussen.
Auch Bougyues-Telecom-Teammanager Jean-René Bernaudeau, der Rasmussen und sein Rabobank-Team bereits öffentlich mit einigen derben Schimpfworten belegt hat, regt sich an jedem Tag erneut über den zaudernden Tourveranstalter Amaury Sports Organisation auf. Tourdirektor Christian Prudhomme, der am Start den Journalistenpulk energisch auseinandertrieb, beweist nicht nur in Bernaudeaus Augen ansonsten weitaus weniger Durchsetzungsvermögen.
Nachdem er sich verbal ein wenig ausgetobt hat, gerät allerdings auch der meist vor Energie sprühenden Bernaudeau ins Grübeln. An ein Mannschaftsauto gelehnt sinniert er darüber, warum er eigentlich noch hier ist: "Ich habe mir überlegt, warum lasse ich mich nicht an der nächsten Autobahnabfahrt absetzen, rufe ein Taxi und fahre nach Hause? Aber am Ende bleiben wir eben doch hier. Es ist die Tour und sehen Sie, wie sehr die Leute sie hier feiern."
Eine Abreise kommt auch für Holczer trotz der Ereignisse um Rasmussen, Contador, Winokurow oder Patrik Sinkewitz nicht in Frage - zumindest nicht für seine Mannschaft: "Wir müssen hier nicht abhauen." Dann blickt er zu den anderen Bussen. Einer fehlt bereits. Astana ist an diesem Morgen um halb neun abgereist. Offen bleibt, ob das Team jemals wiederkommt. In Orthez hat es eigentlich niemand vermisst.