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Wales bei der WM: Cymru-gby

Foto: Peter Cziborra/REUTERS

Wales bei der WM Im Rugby ist man wer

Mit einem Sieg im Halbfinale gegen Südafrika könnte Wales erstmals ins Endspiel der Rugby-WM einziehen. In diesem Sport fühlt sich das kleine Land groß. Ein Finale gegen den Rivalen England wäre die Krönung.

Wer verstehen will, wie wichtig Rugby in Wales ist, dem genügt die Geschichte von Barry John. In den Siebzigerjahren dominierte er mit Wales das Welt-Rugby. Der heute 74-Jährige gilt als einer der besten Fly-Halfs, die jemals gespielt haben. "The King" nannten ihn die Waliser und sie behandelten ihn auch wie einen König.

John arbeitete nebenbei in einer Bank. Als dann aber eine Frau getreu seines Spitznamens vor ihm einen Knicks machte, beendete er mit 27 Jahren seine Karriere. "Wenn ich etwas gebraucht habe, das mir zeigte, dass es weit über das Ziel hinausging, dann war es das", sagte John, "alles war außer Kontrolle geraten."

An diesem Sonntag steht Wales im Halbfinale der Rugby-Union-WM in Japan und trifft dort auf Südafrika (10 Uhr; TV: ProSieben Maxx). Gewinnt das Team dort, zieht es erstmals in ein WM-Finale ein - und dann könnte in Wales wieder einiges außer Kontrolle geraten. Spätestens aber, wenn im Endspiel sogar noch England besiegt werden würde.

Barry John gilt als einer der besten Fly-Halfs der Rugby-Geschichte

Barry John gilt als einer der besten Fly-Halfs der Rugby-Geschichte

Foto: Corbis/ VCG via Getty Images

Denn nach 28 Jahre haben es erstmals wieder zwei britische Teams ins Halbfinale der Rugby-WM geschafft. England trifft am Samstag auf den Topfavoriten Neuseeland (10 Uhr; TV: ProSieben Maxx). Erreichen sowohl Wales als auch England das Endspiel, stünden die Waliser vor einem Problem: Ein Erfolg gegen England im WM-Finale wäre zwar der größte Sieg der eigenen Geschichte, eine Niederlage aber auch die kolossalste überhaupt.

Im Schatten Englands

"Die Leute in Wales würden es bevorzugen, im Halbfinale gegen Südafrika zu verlieren, als gegen England im Finale", sagte Professor Martin Johnes, Historiker von der Swansea University, dem SPIEGEL. Johnes forscht zu den Themen Sport und Politik. England gegen Wales sei im Rugby nicht nur ein Spiel zweier Nationen, die zufällig nebeneinanderliegen, sagt Johnes. Es sei vielmehr eine Art Klassenkampf.

Traditionell seien die Gesellschaftsschichten, in denen Rugby gespielt wird, der größte Unterschied zwischen beiden Rugby-Nationen. Während Rugby in Wales von fast allen Menschen gespielt wird, lebt der Sport in England vom wohlhabenden Bürgertum. "Wales gegen England ist eine soziale Gruppe gegen eine andere", sagt Johnes.

Rugby in Cymru, wie Wales auf Walisisch heißt, geht über den Sport hinaus, es ist Teil der nationalen Identität. Das kleine Land im Westen Großbritanniens steht international im Schatten Englands. Die Waliser fühlen sich oft, als würden die Engländer auf sie herabsehen.

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Wales bei der WM: Cymru-gby

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Sport sei in Wales so wichtig, weil damit der ganzen Welt gezeigt werden könne, dass Wales existiert, sagt Johnes. Im Rugby spielt die walisische Nationalmannschaft auf Augenhöhe mit der englischen. Hier ist Wales wer. Im Fußball schaffte es die Nationalmannschaft 2016 bei der EM zwar bis ins Halbfinale (0:2 gegen Portugal). Sie ist aber nicht konstant erfolgreich.

Rugby als Teil der Identität

Rugby sei für die Waliser eine Chance zu zeigen, "dass sie wichtig sind. Dass sie so sind wie andere Nationen", sagt Johnes. Während Wales im Rugby unabhängig ist, geht die Politik über die Landesgrenzen hinaus. Erst seit der Devolution im Jahr 1998 gibt es in Wales ein eigenes Regionalparlament, zuvor fielen die Entscheidungen, die das Land betreffen, drüben in London. Der Drang der Waliser nach Eigenständigkeit spiegelt sich auch im geplanten Ausstieg Großbritanniens aus der EU wider. Während Schottland, Nordirland und Gibraltar gegen den Brexit stimmten, war in Wales knapp über die Hälfte der Wähler dafür.

Die eigene Identität ist in Wales ein großes Thema. "Menschen diskutieren, ob Wales überhaupt unabhängig sein sollte", sagt Johnes. "Die Rolle der walisischen Sprache ist kontrovers. Einige Menschen fühlen sich ausgeschlossen, weil sie nicht walisisch sprechen." 20 Prozent der Menschen in Wales sprechen die keltische Sprache. Sport wie Rugby bringe diese verschiedenen Gruppen zusammen, sagt Johnes.

Sport bringt Gruppen auch in Wales zusammen - und vor allem Rugby

Sport bringt Gruppen auch in Wales zusammen - und vor allem Rugby

Foto: Christophe Simon/AFP

Die Geschichte der Nation ist mit der ihres Rugbyteams verknüpft. Das hat seine Ursprünge in Zeiten, in denen Rugbyspieler noch keine Profis waren und nebenher arbeiten mussten. Durch den Kohleabbau wurde Wales früh industrialisiert, und mit den Aufschwüngen kamen die Erfolge der "Drachen", wie das Rugby-Nationalteam genannt wird. Als in den Achtzigern die meisten Bergwerke geschlossen wurden, geriet auch das Rugby in Wales in einen Negativlauf.

Spieler wechselten in die Variante Rugby League, im Norden Englands konnte damit Geld verdient werden. In Wales gab es durch den Abschwung weniger Jobs. Ging es dem Land schlecht, spürte das auch das Rugby. 1991 und 1995 scheiterte das Team bei der WM in der Vorrunde. Erst 1995 wurde Rugby Union professionalisiert.

Heute, da die Spieler Profis sind, haben sich die Erfolge der walisischen Volkswirtschaft und des Rugby-Teams voneinander abgekoppelt. Aber die Stimmung im Land kann das Nationalteam schon noch beeinflussen. Man stelle sich vor, Wales würde nun das Halbfinale gegen Südafrika gewinnen, aber dann das Finale gegen England verlieren. Historiker Johnes sagt: "Das würde den Schmerz über die Endspielniederlage noch einmal verstärken."

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