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RADFAHREN Spiel mit Unbekannten

Fredy Schmidtke aus Köln kam als Favorit nach Los Angeles. 1983 bei der Weltmeisterschaft hatte er in ähnlicher Situation verloren. »Wenn ich verliere«, sagte er, »bin ich die Pfeife der Nation.« *
aus DER SPIEGEL 32/1984

Ein Helm, weißblinkend unter kalifornischer Sonne und windschnittig wie in Science-fiction-Filmen, gibt nur das Gesicht frei. Der Rennfahrer wirkt in seiner zweiten Haut aus Kunststoff wie ein Froschmann, dem man die Hose über den Knien abgeschnitten hat. Fredy Schmidtke, 23, kauert festgezurrt in den Pedalen seines Spezialrades, alle Muskeln gespannt wie Federn in einem Uhrwerk, das Bewußtsein eingeschaltet auf völlige Konzentration.

In 64 bis 67 Sekunden, einer Zeitspanne, die knapp hinreicht, bis zur nächsten Olympia-Entscheidung im Fernsehen ein Bier aus dem Kühlschrank zu holen, entscheidet sich, ob Schmidtke Olympiasieger wird oder ob er vier Jahre vergebens malocht, sich »elender Schinderei« unterworfen hat.

Im Unterschied zu ihm treten die Verfolgungsfahrer 4000 Meter durch, zwölf Runden um die 333,33 Meter lange Bahn, und sie haben es zudem mit leibhaftigen Gegnern zu tun. Im Sprintwettbewerb belauern sich jeweils zwei oder gar drei Bahnfahrer gegenseitig, bis sie aus der Kurve in die letzten, entscheidenden 200 Meter schießen. Erst wer zwei von maximal drei Sprints verloren hat, ist besiegt.

Im 1000-Meter-Zeitfahren, Schmidtkes Spezialität, spurtet jeder seine drei Runden allein gegen die Uhr. Es gibt nur eine Chance, keine Viertel- und Halbfinals wie bei den Verfolgern. Schon die Startnummer eins kann die Tagesbestzeit vorlegen und noch der letzte Starter mit seinem Einsatz die Bank sprengen. Schmidtke muß als 27. und letzter auf die Piste.

Die Zeitfahrer, so verlangt es das Programm, müssen zuerst auf die olympische Bahn. Schmidtke »belastet das nicht«, obwohl er weiß, daß ein Erfolg die ganze Mannschaft beflügelt, daß es ihren Tritt aber auch lähmen kann, falls der Auftakt mißrät.

Spontan sagt Schmidtke: »Natürlich habe ich Bammel, wenn ich verliere, bin ich doch die Pfeife der Nation.« Der Gedanke an wer weiß wie viele Millionen Landsleute mit ihren goldenen Erwartungen am TV-Schirm macht ihn »schon nervös«.

Außerdem trägt er an der Tradition wie an einem Rucksack. Der Bahnradsport gehörte von Anfang an, seit 1896, zum olympischen Programm, und Deutsche zählten fast immer zu den Medaillengewinnern.

Bei aller Ablenkung im Olympischen Dorf sind Gedanken an Sieg oder Niederlage unverdrängbar »immer im Hinterkopf«. Schmidtke erinnert sich an eine Erkenntnis von Rudi Altig, als Amateur und Profi gleichermaßen erfolgreich: »Wer nicht eine schlimme Niederlage verkraften kann, wird kein ganz Großer.« Diese Niederlage, so Schmidtke, habe er hinter sich. Bei der Weltmeisterschaft 1983 war er, obwohl Favorit, nur Vierter geworden, »weil ich zu schnell angegangen und dann eingebrochen bin«.

Das geschah Schmidtke als gestandenem Meister, der seit 1979 von der Jugendklasse an 18 deutsche Meistertitel und fünf Weltmeisterschaften zusammengestrampelt hatte.

Aber jetzt hat er die Bitternis des Versagens verdaut und müßte also ein Großer sein. Er hat gelernt, extremen Streß durchzustehen, ist bereit und willens, es allen zu beweisen. Denen - und sich selbst - psychisches Stehvermögen zu zeigen, treibt seinen Adrenalinspiegel höher als die Aussicht auf Profigagen.

Rohrschlosser hat er in Dormagen gelernt, doch dazu hat er »keine Lust mehr«. Bis 1985 dient Obergefreiter Schmidtke einen Zeitvertrag bei der Bundeswehr ab. Vielleicht kehrt er anschließend zu seiner alten Firma EC Erdölchemie, einer BP- und Bayer-Tochter, zurück, jedenfalls »haben die mir schon was angeboten«. Bayers weitläufige Betriebssportabteilungen bieten

so manchem ehemaligen Sportstar eine Aufgabe.

Gedanken an seine berufliche Zukunft hängt Schmidtke kurz vor dem Start nicht mehr nach. Ihn und die Bahnradfahrer insgesamt beunruhigen eher die vielen Unbekannten im olympischen Spiel. In ihrem technisierten Sport, in dem die Rennräder auf sieben Kilo herunterentwickelt worden sind, das Gewicht einer mit Büchern vollgestopften Schulmappe, hängt der Erfolg nur bedingt von ihnen ab.

Die Fahrer des Bahnvierers etwa, deren Wettkampf knapp fünf Minuten dauert, verzichten auf die neuen, windabweisenden Plastiktrikots aus einem Stück. »Drei Leute müssen einen Fahrer hineinzerren«, sagt Trainer Udo Hempel, »allein schafft das keiner.« Außerdem haben die Fahrer in diesen Trikots Temperaturen wie in einer Sauna auszuhalten. Schmidtke, nur gut eine Minute im Rennen, lebt mit der künstlichen Haut, ihn »baut das irgendwie auf«.

Viererfahrer Michael Marx hält die technischen Möglichkeiten »für ziemlich ausgereizt«. Aber Neuerungen, ob zeitsparend oder nicht, verunsichern alle Radler, die nicht darüber verfügen. Unruhe breitete sich im Fahrerlager aus, als der Italiener Francesco Moser mit Scheiben statt Speichen in den Rädern den Stundenweltrekord über 50 km/h trieb. Schweizer und Amerikaner verschafften sich Scheibenräder.

Ausgekleidete Räder bedeuten vor allem bei Windstille einen Vorteil. Im Freiluft-Velodrom in Los Angeles fallen Winde vom Pazifik ein und drücken auf die Superräder. Die Deutschen verwarfen die Neuerung nach einigen Testfahrten, die Amerikaner holten in den Verfolgungsrennen Gold, Silber und Bronze.

Unberechenbar wie der Wind ist die Betonpiste, die »glatt aussieht, aber trotzdem stuckert«, so Bundestrainer Udo Hempel über die Billigbahn der privaten Olympia-Organisatoren. Konditionstraining auf der Straße, witzelt Marx, »fand nur von Ampel zu Ampel statt«.

Kurz vor dem ersten Start traf die Mannschaft zudem ein Schock, mit dem niemand rechnen konnte: Eine vorsorgliche Dopingprobe an Gerhard Strittmatter war positiv. Die Funktionäre strichen ihn aus dem medaillenverdächtigen Bahnvierer.

Strittmatter hatte sich am 17. Juni bei einem Sturz Anrisse am Becken und Oberschenkel, dazu schwere Prellungen zugezogen. Der Freiburger Sportmediziner Professor Armin Klümper, der selbst nach einigen Querelen auf seinen Olympia-Einsatz verzichtet hatte, spritzte dem Patienten Strittmatter Primabolan, ein Mittel von der Tabuliste.

Der verunglückte Sportler bestritt, darüber aufgeklärt worden zu sein, daß dieses Mittel noch nach zehn Wochen nachweisbar ist. Professor Joseph Keul, Chef der deutschen Ärztedelegation in Los Angeles, hielt »eine andere Methode« für möglich, »die dem Athleten vielleicht nur 95 Prozent seiner Leistungsfähigkeit gebracht hätte, aber nicht das Dopingproblem«. Olympiasieger und Jurist Thomas Bach aus der Athleten-Kommission des IOC packten »Bestürzung und kalte Wut«. Strittmatter büßte ohne Schuld die Medaillenchance ein.

Kilometerfahrer Schmidtke war sich vor seinem Start selbst nicht darüber im klaren, wie weit der unvorhersehbare Vorfall auf die Stimmung der ganzen Radfahrer-Crew gedrückt hatte, ihn eingeschlossen. Was er denn überhaupt so am Start gedacht habe, versuchte ihm ein Journalist zu entlocken. »Denken?«, antwortete Schmidtke, »am Start darfst du gar nichts mehr denken, sonst bist du weg.«

»Ich bin zu schnell angegangen«, übte er später Selbstkritik. »Dann wurden mir gegen den Wind die Beine schwer.« 34 Hundertstelsekunden Vorsprung rettete er ins Ziel, die Bestzeit eines Unbekannten, diesmal aus Kanada, unterbietend. Er befreite sich aus dem Trikot und beteuerte: »Das kann ich wirklich nicht mehr«, als die Photographen ihn mit hochgeschlossenem Dress ablichten wollten. Zum Beweis der ausgestandenen Hitzequalen wrang er die Ärmel aus: Schweiß tropfte ab wie Wasser aus einem nassen Waschlappen.

Am nächsten Tag begann das Sprinterturnier. Mit Schmidtke, dem Olympiasieger im Zeitfahren. Sein Scheitern bereits im Viertelfinale ertrug er mit Gelassenheit. Schmidtke war längst nicht mehr in Beweisnot, sein Auftakt-Gold hatte auch den Kollegen Versager-Ängste genommen. Einerverfolger Rolf Gölz holte Silber, der Vierer immerhin Bronze. _(Sieger im ) _(4000-Meter-Einzel-Verfolgungsfahren. )

Sieger im 4000-Meter-Einzel-Verfolgungsfahren.

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