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FUSSBALL Steilpass ins Parlament

Belgiens Ex-Nationalspieler Marc Wilmots, Publikumsliebling bei Schalke 04, kandidiert für den Senat. Skeptiker warnen: Der Politik drohe ein Abrutschen ins Showbusiness.
Von Jörg Kramer
aus DER SPIEGEL 52/2002

Im Herbst seiner Karriere ging der ermattende belgische Fußballspieler Marc Wilmots, 33, mit sich zu Rate - und befand, dass er für seine Zukunft aus drei Optionen zu wählen habe. Die erste, nämlich im Heimatdorf Dongelberg, wo seine Eltern einen Bauernhof besitzen, ein gemütliches Rentnerleben zu beginnen, schied für den Profi in Diensten des Bundesligisten Schalke 04 aus: Auf dem Sofa vor dem Fernseher, meinte er, wäre er »kein schönes Vorbild« für seine zwei Söhne.

Möglichkeit zwei, eine der Offerten seiner früheren belgischen Arbeitgeber anzunehmen, erschien ihm auch nicht sehr reizvoll: »Was kann ich als Trainer etwa bei Standard Lüttich groß bewegen? Die haben doch sowieso kein Geld.«

Also beschloss Wilmots, nach Saisonende Politiker zu werden. Mitte Juni kandidiert der kernige Ex-Internationale, seit der vergangenen Weltmeisterschaft Nachfolger der belgischen Legende Jan Ceulemans als bester Torschütze des Königreichs in WM-Turnieren, bei den Parlamentswahlen für einen Sitz im belgischen Senat. Die Reformpartei Mouvement Réformateur (MR) setzte den Landwirtssohn auf Listenplatz vier - damit gilt sein Transfer in die zweite Kammer des Staates als sicher.

Dort will sich der Neuzugang der frankophonen Liberalen um den Sport und die Jugend kümmern - dieses Ressort, sagt er, »kann ich am besten«. Der ehemalige »Rote Teufel«, wie die Nationalkicker Belgiens genannt werden, lässt sich auch bei MR, den »Blauen«, vom bekannten Offensivgeist treiben: »Ich brauche die Politik nicht, die Politik braucht mich«, hat er sendungsbewusst festgestellt.

Belgiens Senat, ein allenfalls Impulse gebendes Beratungsorgan, gilt freilich als De-

battierzirkel mit fragwürdigem Nutzen; selbst Ministerpräsident Guy Verhofstadt sinnierte schon über die Entbehrlichkeit des Nachdenklabors. Doch der schwungvolle Publikumsliebling Wilmots, von Schalke-Fans immer noch als Vater des Uefa-Cup-Triumphes 1997 umschwärmt, hat seine Ideale und kennt schon erste Saisonziele seiner Legislaturperiode: Eine Stunde Schulsport etwa sei zu wenig.

Ansonsten scheint der Senator in spe programmatisch noch für Anregungen offen. Klar, Doping findet er schlecht, und dass die Formel 1 wegen des belgischen Tabakwerbeverbotes vom nächsten Jahr an auf den Grand Prix in Spa-Francorchamps verzichtet, sei standortpolitisch »eine Katastrophe«. Im Übrigen will der Umsteiger aber zunächst mal »mit Leuten reden, was man so verbessern kann«.

Der Wallone Wilmots, der alle drei Landessprachen beherrscht und seinen ältesten Sohn mit Bedacht in Flandern einschulen lässt, hat den Ruf einer nationalen Integrationsfigur. Ende November wurde der mit einer flämischen Anwältin verheiratete Fußballprofi als »Verdienter Sportler« des Landes geehrt. Sein politischer Ansatz erinnert an einen Sturmlauf mit der Brechstange: »Über die Politik zu schimpfen ist einfach. Ich kremple die Ärmel hoch und gehe rein.«

Mit dem Kämpfen, sagt der Mann, den sie in der belgischen Heimat den »Stier von Dongelberg« und im Ruhrpott »Willi, das Kampfschwein« nennen, kenne er sich schließlich aus. Zu Beginn seiner Laufbahn schoss er abends Tore für den damaligen Zweitligisten VV St. Truiden, nachdem er tagsüber noch zehn Stunden lang dem Vater bei der Maisernte zur Hand gegangen war. Insgesamt elf Operationen an Knien, Leisten, Schulter und Knöchel hielten ihn nicht von der Fortsetzung seiner Wühlarbeit in den Strafräumen ab.

Vom Fußball hat ihn ein Nachbar für den Dienst an der konstitutionellen Monarchie abgeworben: Belgiens Außenminister und MR-Politiker Louis Michel, gemeldet in Jodoigne, der 11 000-Seelen-Gemeinde, zu der auch das Dorf Dongelberg gehört. Behauptungen, wonach dem gelernten Torjäger die nötige Politikerfahrung für ein Parlamentsamt fehle, kann das neue MR-Angriffsduo mit dem Hinweis auf gemeinsame Diskussionsabende im Hause Michel widerlegen. Auch Wilmots'' älterer Bruder George, Inhaber zweier Sportgeschäfte, war als Lokalpolitiker acht Jahre lang für die Reformbewegung aktiv.

Den Verdacht jedoch, Michel könnte den ehemaligen Kapitän der Nationalelf in erster Linie als Wahlkampflokomotive angeheuert haben, versuchte Wilmots ("Ich bin nicht nur eine Stimmenmaschine") bislang vergebens zu entkräften. Das Blatt »La Libre Belgique« erinnerte an frühere Versuche, Idole der Gesellschaft »als Köder« zu benutzen: Womöglich stehe der Politik ein »Abrutschen ins Showbusiness« bevor.

Prominente Figuren der Leibesertüchtigung sind als Volksvertreter in Mode gekommen. So sitzt der frühere Judo-Trainer Jean-Marie Dedecker für die flämischen Liberalen (VLD) bereits im Senat. Der Fußballmanager Alain Courtois, Turnierdirektor der Europameisterschaft 2000, kandidiert für einen MR-Abgeordnetensitz der Region Brüssel. Und der Schiedsrichter Amand Ancion geht für die christdemokratische CDH ins Rennen.

Auch die Zeitung »Le Soir« wunderte sich über solches »Herunterkullern von Stars auf die Wahllisten« und verglich den Einstieg Wilmots'', des »Adonis in kurzen Hosen«, mit dem Bemühen der CDH, sich

mit »Miss Belgien« zu schmücken - nur weil deren Vater von Berufs wegen die Partei-Vorstandschefin chauffiert.

Minister-Freund Wilmots will aber mehr als ein Wahlhelfer sein. Darum hat er sich für seine Zweitkarriere bereits ein Grundwissen angeeignet: »In der Politik kriegst du manchmal ein Messer in den Rücken, das weiß ich schon.« Und zum anderen: »In der Politik muss man Geduld haben.«

Gerade Langmut und diplomatisches Geschick trauen ihm aber nicht alle Weggefährten aus dem Fußballerleben ohne weiteres zu. Zeit seiner Laufbahn wurde Wilmots vom Leumund des Sturkopfes begleitet. Aus der Nationalmannschaft trat er das erste Mal nach der Weltmeisterschaft 1994 zurück, weil ihn Trainer Paul van Himst nicht aufstellen wollte. Bei seinem Intermezzo in Bordeaux lag er bald mit Girondins-Coach Elie Baup im Clinch.

Und als er zwischenzeitlich seine geliebten Schalker verließ, zu deren Spielen ihn immer eine heimatliche Blaskapelle und ein Kleinbus mit ihn verehrenden Rollstuhlfahrern aus Dongelberg begleiteten, lautete das allseits vermutete Motiv: Eifersucht. Dass das Club-Management mit Nationalspieler Andreas Möller einen weiteren Mittelfeld-Chef neben ihm eingekauft hatte, kommentierte der Platzhirsch nämlich beleidigt: Schalke habe »hinter meinem Rücken ein Kind geboren«.

Auf seinem politischen Weg hat sich Wilmots vorgenommen, statt des bevorzugten Steilangriffs auch mal Quer- oder Rückpässe zu akzeptieren. Für den Fall, dass sich für ein Projekt keine Mehrheit abzeichne, sagt Marc Wilmots, will er sich kompromissbereit an ein Sprichwort halten: »Mette de l''eau dans son vin« - kipp in den Wein halt ein bisschen Wasser. JÖRG KRAMER

* Beim Empfang nach der Rückkehr von der Weltmeisterschaft am23. Juni im belgischen Jodoigne.* Beim 2:2 im WM-Vorrundenspiel gegen Japan am 4. Juni inSaitama.

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