Streiks statt Spiele
Auf der Suche nach Arbeit gelangte der Eisenflechter Yves Pratte, 24, vor die Tore des Olympiabaugeländes in Montreal. Ordner und Polizisten forschten barsch nach dem Begehr. Pratte antwortete ebenso unwirsch: »Ich will hier rein«.
Er blieb draußen. Als Pratte aufbegehrte, führten ihn Polizisten ab. Der Eisenflechter war das Opfer jener vorolympischen Spiele geworden, bei denen Arbeitgeber und Gewerkschaften seit Monaten um Jobs und Löhne streiten, 300 Arbeiter wurden entlassen. »Wenn die Unruhestifter erst einmal draußen sind«, kommentierte ein Bauunternehmer den Fall Pratte, »dann gibt es auch bald keine Verzögerungen mehr.«
Nicht was Hochspringer oder Hammerwerfer, Schwimmer oder Reiter zuwege bringen, interessiert Montreals Olympiaveranstalter, sondern wie oft noch die vier Gewerkschaften der Klempner und Rohrleger, der Elektriker, der Kranführer und der Fahrstuhlinstallateure zum Streik aufrufen. Denn damit blockieren sie den Bau der Olympiastätten. »Jeder Tag Streik kostet jetzt einen Tag Olympia«, bangt Lord Killanin, Präsident des Internationalen Olympischen Komitees (IOC), um den Eröffnungstermin 17. Juli 1976.
»Korruption und Banditentum haben ein Höchstmaß erreicht«, beschreibt ein offizieller Report die Bauszene in der Olympiastadt. Besonders die Bauindustrie in der Provinz Quebec, zu der Kanadas größte Stadt Montreal gehört, sei von »Wucher und Bestechung, Erpressung und Einschüchterung« heimgesucht, ermittelte Robert Cliche, der von der Regierung Quebecs eingesetzte Untersuchungskommissar.
Danach haben Gangster einige Gewerkschaftsfunktionäre angeleitet, um sie »mit Mitteln und Wegen des organisierten Verbrechens vertraut zu machen«. Olympia wurde zur passenden Gelegenheit, lange schwelende Arbeitskämpfe für die Arbeiterführer zu entscheiden. Cliche schlug vor, die vier militanten Gewerkschaften unter staatliche Treuhand zu stellen. Es geschah.
Mit solchem Arger hatte Montreals Bürgermeister Jean Drapeau 1970 nicht gerechnet, als er rund eine Million Mark auswarf, um die auch von Moskau und Los Angeles begehrten Olympischen Sommerspiele erstmals nach Kanada zu holen. Erst sollten es einfache, aber perfekte Spiele werden. Kaum hatte Drapeau, der eigentlich gerne Missionar geworden wäre, Olympia für seine Stadt gewonnen, geriet er ins Schwärmen: »Kleine Träume bleiben zu Hause, große Träume kommen nach Montreal.«
Was kam, waren Alpträume. Denn Quebecs oberster Gewerkschaftsboss Louis Laberge nutzte Olympia als Hebel zur Abwehr von Massenentlassungen und zur Steigerung der Löhne. »Wir werden wie die Hunde um uns beißen«, drohte er der Regierung des Premiers Robert Bourassa, der längst wußte: »Die Bauindustrie ist die Achillesferse von Quebec.«
Als im August 1974 der Deutsche Willi Daume, Organisator der Münchner Spiele von 1972, als IOC-Abgesandter zur Inspektion nach Montreal kam, stapfte er noch durch knöcheltiefen Sand. Wo schon Gerippe von Stadien und Sporthallen stehen sollten, erstreckte sich nur eine Baugrube. Münchens Olympiastadion war zur vergleichbaren Zeit schon deutlich erkennbar gewesen. Von Montreals besorgten Olympia-Funktionären um Rat gefragt, seufzte Daume: »So was ein Jahr vor München, und ich hätte als guter Katholik nur noch gebetet.«
Zahlreiche Streiks in Montreal haben schon viel Bauzeit vergeudet, weitere sind zu erwarten. Laberges Leute kannten sich besonders mit wilden Streiks aus. So hatten sie das Flugzeugwerk United Aircraft im Montrealer Vorort Longueuil mit 2000 Männern gestürmt.
Verzweifelt schlug Roger Rousseau. der Leiter des Montrealer Olympia-Organisationskomitees. vor, die Spiele in einem Ausweich-Stadion abzuhalten. So sollte Montreals größter Spielplatz. das Autostade, über Meilen hinweg und in Einzelteile zerlegt aufs Olympiagelände gebracht werden. Doch Max Danz, Kundschafter der internationalen Leichtathletikverbände, protestierte: »Da war ja Athen 1896 noch besser.« Nicht einmal die Wettbewerbe der Reiter dürfen, wie geplant, im ungünstig gelegenen Autostade stattfinden. Die Reiter müssen 1976 ihre Pferde rund 80 Kilometer zum Parcours treiben. Nur die Segler in Kingston dürfen mit einem ungetrübten Olympia rechnen. Wegen der unsicheren Unterkunftslage entsendet die Deutsche Sportjugend keine Teilnehmer.
»Wir können uns keinen Streiktag mehr leisten«, sah Montreals Stadtdirektor Lawrence Hannigan ein und fand sich damit ab, den Kampf mit den Gewerkschaften fortzuführen. Immerhin sind bis auf die beiden Hauptanlagen fast alle anderen Olympiastätten nahezu fertig. Doch die im Bauplan vorgesehenen wichtigsten Endtermine. im Februar 1976 das Olympische Dorf mit den Unterkünften der Athleten und im April das Olympiastadion fertigzustellen, sind sogar ohne weitere Streiktage nicht mehr einzuhalten.
Inzwischen bekennt auch Olympiabeschaffer Drapeau ("Ich werde jetzt für jeden Unfall auf der Straße verantwortlich gemacht"), daß beim nächsten Streik nicht nur Zeit, sondern vielleicht auch Olympia verlorengeht, mindestens aber alles »sehr teuer wird«. Die ursprünglich erwarteten Spiele-Kosten von 310 Millionen Dollar stiegen bis jetzt schon auf 750 Millionen.
Neue Streiks aber kündigte Gewerkschaftsboss Laberge erst letzte Woche an, was Montreals Olympiafunktionär Simon Saint-Pierre spotten ließ: »Wir kriegen wohl nur die Goldmedaille im Streiken.«