Zur Ausgabe
Artikel 50 / 86

Olympia Talente im Busch

Der afrikanische Staat Botswana trimmt Buschmanner für den olympischen Marathonlauf -- ein neuer Versuch, Naturkinder auf den Leistungssport umzustellen.
aus DER SPIEGEL 11/1972

Mit weiten Sätzen flüchtete eine Antilope über die Savanne. Drei speerbewaffnete Buschmänner jagten das Wild zu Fuß. Nach ungefähr 15 Kilometern hatten sie die Antilope müde gehetzt und erlegten sie.

Der deutschstämmige Buschmann-Forscher Dr. Hans Heinz beobachtete die erstaunliche Laufleistung und beschloß, die ausdauerndsten Rennjäger auf den olympischen Marathonlauf 1972 in München vorzubereiten.

Immer wieder haben Kulturkritiker vermeintliche Wunderleistungen von Naturkindern rassistisch als Anzeichen einer drohenden schwarzen oder gelben Gefahr mißdeutet. Schon 1908 hatte Friedrich Adolf Herzog von Mecklenburg nach einer Ostafrika-Expedition über Watussi berichtet, die bis zu 2,50 Meter hoch sprängen, viel höher als Amerikaner und Europäer (Weltrekord: 2,29 Meter).

Seine Photos rückten dann den Maßstab zurecht: Die Watussi benutzten Termitenhügel als Sprungbrett. Ihre Stammesstatuten fordern zum Beweis der Mannbarkeit einen Sprung über die eigene Körpergröße; Watussi messen durchschnittlich 1,90 bis zwei Meter. Bisher glückte allerdings kein Versuch, sie für den Wettkampfsport zu gewinnen.

Bei den Olympischen Spielen 1920 starteten erstmals Schwimmer aus Hawaii. Bei zwei Olympiaden gewannen sie sieben Medaillen, darunter vier goldene. Der erfolgreichste nannte sich Duke Paoa Kahanamoku und kraulte mit rationeller Technik schneller als alle Favoriten. »So »ist schon mein Großvater geschwommen«, erklärte er seinen Stil. Sicher ist aber, daß die Hawaii-Krauler in ihrer Heimat ausgiebiger trainieren konnten -- das ganze Jahr hindurch.

»Die Zivilisation kann sich begraben lassen. Es lebe die Ursprünglichkeit«, schrieb die »Welt« 1960. »Rousseau rotierte vor Freude im Grabe.« Der unbekannte Äthiopier Abebe Bikila hatte im olympischen Marathonlauf gesiegt -- barfuß. In Wirklichkeit war Bikila -- vom schwedischen Langlauf-Trainer Onni Niskanen -- am sorgfältigsten vorbereitet worden. Er hatte die gepflasterte Strecke auf der römischen Via Appia Antica mit und ohne Laufschuhe erprobt und schließlich auf Rennschuhe verzichtet.

Vier Jahre später wiederholte er seinen Sieg -- auf Asphalt und mit Schuhen. Der Negus beförderte ihn zum Offizier seiner Palastwache; Bikila bezog mit seiner Familie ein Häuschen in Addis Abeba. Ein schwerer Unfall lähmte ihn; trotzdem trainiert er noch den Nachwuchs.

Beim Olympia 1964 stürzte vor dem 800-Meter-Finale ein Schwarzer in die Umkleidekabine und fragte: »Was muß ich jetzt tun?« Anschließend erkämpfte Wilson Kiprugut aus dem Hochland von Kenia die Bronzemedaille und 1968 sogar Silber. Die Regierung will ihn als Cheftrainer besolden. In Mexiko gewannen Läufer aus Kenia schon acht Medaillen.

Rasch ergründeten Experten die Ursachen des vermeintlichen Sportwunders: Der britische Trainer John Velzian hatte in der Nandi-Region ungewöhnlich ausdauernde Läufer entdeckt. Er siedelte sie nach Nairobi um, verschaffte ihnen Posten bei Polizei oder Militär und gewöhnte sie von nahezu fleischloser Kost auf zweckmäßige Athleten-Nahrung um.

»Ich will nur Erster werden«, beschrieb Olympiasieger und Weltrekordler Kipchoge Keino seine Taktik. Nach der Goldmedaille verhalf ihm die Regierung zu einem günstigen Darlehen. Er kaufte sich Land und baute Tee an. Außerdem ist Keino Polizei-Trainer. Olympiasieger Amos Biwott darf auf Staatskosten studieren. Er nahm seine Lektionen ernst und fiel deshalb sportlich zurück. Aber die Chance zum sozialen Aufstieg lockt in Kenia immer neue Talente an.

Auch die Mexikaner hielten vor den Olympischen Spielen 1968 im eigenen Lande Talentschau in 50 Dörfern der fast isoliert lebenden Tarahumara-Indianer; zu kultischen Festen traben sie barfuß bis zu 250 Kilometer weit. Doch für modernes Training mit schnellen Runden auf der Aschenbahn fehlte ihnen das Verständnis. Dennoch rannte ein anderer mexikanischer Indianer in die Weltklasse: Juan Maximo Martinez wurde zweimal Vierter (5000 und 10 000 Meter). Im Trainingslager lernte er Lesen und Schreiben.

Die größte Schwierigkeit, Buschmänner für den Münchner Marathonlauf umzuschulen, sucht auch Forscher Heinz in der fehlenden Motivation. Der südafrikanische Profiläufer David Levick trainierte mit den Jägern Kraunkoa und Olekoa in Hitze und Staub längs der Bahnlinie von Gaberones nach Mochudi. Wenn Olekoa zurückblieb, verhielt auch Kraunkoa, bis sein Genosse wieder aufrückte.

»Die Buschmänner sind keine wettkämpferische Gesellschaft«, erklärte Heinz. Erstmals in Sporthosen und Laufschuhen rannten sie zudem auf ungewohnt hartem Boden. Nach 32 Kilometern in 2:25 Stunden zwangen Wadenkrämpfe sie. aufzuhören.

Doch bei einem Auswahltest rannten zwölf Buschmänner im Wüstensand der Kalahari 37 Kilometer in 3:20 Stunden. Ein Beobachter der Regierung von Botswana versprach beeindruckt: »Wenn wir Geld locker machen können, schicken wir einige Buschmänner zur nächsten Olympiade.« Ohne erfahrenen Trainer hätten sie allerdings keinerlei Chancen, sich im ersten Drittel zu behaupten.

Bei der Jagd wenden die Buschmänner freilich einen Trick an: Sie suchen eine Antilope, die gerade gefressen hat. Während der Flucht kann sie nicht wiederkauen und leidet deshalb an Blähungen.

Mehr lesen über

Zur Ausgabe
Artikel 50 / 86
Die Wiedergabe wurde unterbrochen.
Merkliste
Speichern Sie Ihre Lieblingsartikel in der persönlichen Merkliste, um sie später zu lesen und einfach wiederzufinden.
Jetzt anmelden
Sie haben noch kein SPIEGEL-Konto? Jetzt registrieren