Raducanu vs. Fernandez bei den US Open Das eigentlich unmögliche Finale zweier Tennis-Phänomene

Emma Raducanu
Foto:Paul Zimmer / imago images/Paul Zimmer
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Selten zuvor war ein Grand Slam so unvorhersehbar und lieferte so viele Überraschungen wie die diesjährigen US Open. Das liegt vor allem an zwei Spielerinnen, die vor dem Turnier außerhalb der Tenniswelt kaum jemand kannte, die nun aber in dem wohl unwahrscheinlichsten Endspiel der Open Era im Tennis seit 1968 stehen: Leylah Fernandez, 19, aus Kanada und die Britin Emma Raducanu, 18.
Es ist das erste Mal seit 1999, dass es zwei so junge Athletinnen ins Finale des letzten Grand-Slam-Turniers des Jahres geschafft haben (22 Uhr/TV: Eurosport). Beide Frauen waren ungesetzt, Raducanu musste vor dem eigentlichen Start des Turniers sogar noch durch die Qualifikation. Es ist das Alter, was die beiden Überraschungsfinalistinnen eint. Aber es gibt auch gravierende Unterschiede.

Leylah Fernandez bei ihrem Sieg gegen Aryna Sabalenka im Halbfinale der US Open
Foto: Elise Amendola / APFernandez, die in der Weltrangliste auf Platz 73 und damit fast doppelt so hoch wie Raducanu (150) geführt wird, hat einen deutlich steinigeren und auch dramatischeren Weg in dieses Endspiel hinter sich gebracht als ihre Kontrahentin. Für ihre sechs Matches im Hauptfeld brauchte die Kanadierin zwölf Stunden und 45 Minuten und damit fast fünf Stunden länger als Raducanu. Nur in den ersten beiden Runden musste sie zwei Sätze spielen. Danach ging es für Fernandez immer über die lange Distanz. Nacheinander schaltete sie in zum Teil packenden Dreisatzspielen die etablierten Weltklasse-Spielerinnen Naomi Osaka, Angelique Kerber, Elina Svitolina und zuletzt Aryna Sabalenka aus.
Raducanu, die es als erste Qualifikantin in der Geschichte der Open-Ära in das Endspiel eines Grand-Slam-Turniers geschafft hat, glitt dagegen förmlich durch die US Open. Der 18-Jährigen gelangen durchweg klare Siege, sie hat bis jetzt nicht einen einzigen Satz abgeben müssen und überhaupt nur 27 Spiele bei 18 gespielten Sätzen inklusive der drei Qualifikations-Matches verloren. Bis zum Viertelfinale gegen Belinda Bencic war keine Gegnerin in der Weltrangliste besser platziert als Rang 41.
Aber auch Olympiasiegerin Bencic und im Halbfinale Maria Sakkari, beides Top-20-Spielerinnen, wurden von Raducanu glatt geschlagen.
Entfesselungskünstlerin vs. Schlagkünstlerin
Fernandez’ große Stärke ist ihre Fähigkeit, sich aus anscheinend aussichtslosen Spielsituationen immer wieder zu befreien. Das klingt nüchtern und unspektakulär, in Wahrheit ist es aber eine große Kunst und beweist, welch riesiges Talent Fernandez besitzt. Durch schnelle Sprints von Ecke zu Ecke verkleinert die Linkshänderin immer wieder klug den Platz. Es ist diese Mischung aus Geschwindigkeit und Kontrolle, die sie für bisher jede Gegnerin so unangenehm gemacht hat.
Raducanu dagegen spielt anders: einfacher und schneller. Das Computer-gestützte Hawkeye-System hat ihre schnellste Vorhand in diesem Turnier mit knapp über 160 km/h gemessen. Nur Osaka hat diesbezüglich einen besseren Wert erzielt. Diese Power macht sie auch zu einer hervorragenden Returnspielerin, deren Grundschläge schnell zu Angriffsbällen werden. Raducanus Bewegungen auf dem Court sind insgesamt ausgewogener, als die von Fernandez. Sie spielt das elegantere Tennis.
Bedingungslos-selbstbewusst vs. rational-bescheiden
Fernandez ist hibbelig und immer in Bewegung. So defensiv ihr Stil ist, ihre Attitüde zwischen den Ballwechseln und insbesondere nach gewonnenen Punkten bedeutet immer: Angriff. Selbst zu Beginn eines Matches reckt sie nach Winnern schon mal beide Arme in die Höhe und signalisiert so ihren Gegnerinnen: »An mir kommst du heute nicht vorbei.« Dieses Vertrauen in die eigene Stärke spiegelt sich auch in ihren Einschätzungen nach den Spielen wider: »Ich bin nicht überrascht davon, was gerade passiert. Ich bin nur froh, dass es jetzt passiert und nicht später.« Sie habe erwartet, dass sich ihr Tennis so weiterentwickeln würde. Das sagte Fernandez nach ihrem Sieg im Achtelfinale über Kerber.
On 10 July 2018, a modest Court 17 crowd watched a second round junior #Wimbledon match between @emmaraducanu and @leylahfernandez 🌟
— Wimbledon (@Wimbledon) September 11, 2021
Little did any of them know what was to come...#USOpen pic.twitter.com/xshJVQs4BX
Raducanus Weg bei den US Open war immer auch von Unsicherheit geprägt: »Ich wusste vor dem Start nicht, wozu ich in New York in der Lage sein werde«, sagte sie nach dem Finaleinzug. »Ich bin überrascht, dass ich es geschafft habe, einige der besten Spielerinnen der Welt zu schlagen.« Das Ungläubige hat sich die Engländerin auch auf dem Platz erhalten. Manchmal ballt sie zwar die linke Faust, aber vom Grundsatz her ist sie leiser als Fernandez. Die »New York Times« hat sie einmal als »demütig« bezeichnet.
2018 trafen Raducanu und Fernandez noch im Sechzehntelfinale des Jugendturniers in Wimbledon aufeinander. Es gibt ein Video davon. Fast noch Kinder, aber man erkennt die Unterschiede im Spielstil bereits. Raducanu gewann damals. Nun, drei Jahre später, sehen sich beide im Finale der US Open wieder. Wer hätte das gedacht?