TOUR DE FRANCE Teuflische Tage
Der Präsident der Republik empfing die kleingewachsenen Helden der Nation am Flughafen »Eldorado« in Bogota. »Das Volk von Kolumbien ist stolz auf euch«, sprach Belisario Betancur markig ins Mikrophon und umarmte zwei Radrennfahrer, die bei der Tour de France, dem schwersten Radrennen der Welt, drei Etappen und die Bergwertung gewonnen hatten.
Das war vor einem Jahr. 1986 schickte Kolumbien gleich drei Mannschaften nach Frankreich, eine Equipe zur Tour de France der Frauen, zwei in das 4093-Kilometer-Rennen der Männer. Das Land, in dem mehr als eine Million Menschen hungern müssen, das tief in den Kokainschmuggel und in einen Guerilla-Krieg verstrickt ist und unter 14 Prozent Arbeitslosigkeit leidet, hofft nun ersatzweise wenigstens auf Erfolgserlebnisse durch seine Radlieblinge.
Eine ganze Kompanie Reporter überträgt von sechs Uhr morgens kolumbianischer Zeit an jeden Pedaltritt der radelnden Stars. Kolumbiens Radio RCN (Radio Cadena Nacional) begleitet die Tour mit einem Helikopter, zwei Wagen und drei Motorrädern. Für kein Ereignis verkaufte der Sender mehr Werbespots.
Von den ersten elf Etappen meldete die Reporterschar allerdings kaum Erfolgsmeldungen. Denn auf den Flachstrecken zu Beginn der Tour radelten die Kolumbianer hinterher. »Herrera ist mein Favorit«, legte sich dennoch Jacques Anquetil, der fünfmalige frühere Tour-Sieger, vorzeitig auf den kolumbianischen Kapitän Luis Alberto Herrera fest. »Wenn ich bis zu den Bergen nicht mehr als zehn Minuten verliere«, schürte Herrera die Hoffnungen in der Heimat, »kann ich gewinnen.«
Die Hoffnungen werden sich schwerlich erfüllen. Denn die Fahrer aus den Anden leiden unter einer chronischen Schwäche: Sie sind nur in den Bergen Weltklasse. Zu Hause führen Training und Rennen fast ausschließlich durch das Gebirge. »Um die Tour in den Bergen zu gewinnen«, analysierte die Sportzeitung »L'Equipe«, Mitveranstalter der Tour, müßten die Kolumbianer erst mal »vermeiden, sie in der Ebene zu verlieren«.
Trotz des Handikaps hatte der Kolumbianer Alfonso Florez Ortiz 1980 die Tour de l'Avenir, die kleine Tour de France der Nachwuchsfahrer, gewonnen. Das ermutigte die Südamerikaner 1983, noch als Amateure, erstmals an der richtigen Tour teilzunehmen. Als Sponsor fanden sie die deutsche Batterie-Firma Varta, mit deren Produkten Millionen Kolumbianer ihre Transistorradios betreiben.
Miserabel ausgerüstet, kämpften die Kolumbianer eine Woche im selben
Trikot, ein Fahrer hatte sein Rennrad auf Kredit gekauft. Täglich verputzten die Fahrer samt Troß, 23 Leute, 25 Kilo Kartoffeln. Sie löffelten jeden Tag dicke Kartoffelsuppe mit Hühnchen - ihr Nationalgericht. Dazu tranken sie literweise Cola und Wasser, das sie wie zu Hause mit Rohrzucker eindickten.
»Ich fahre für mein Land«, beteuerte Jose Petrocinio Jimenez Bautista, der seine vierköpfige Familie in Bogota durch Botenfahrten für eine Apotheke ernährte, bevor er 1981 die Tour de l'Avenir mitfahren durfte: er beendete sie als bester Kletterer. Auch bei seiner ersten richtigen Tour de France gehörte er sofort zu den besten Bergfahrern.
»Bei uns sind wir gewohnt, 40, 60, ja 80 Kilometer in einem Stück zu klettern, erklärte Jimenez, 1,60 Meter kurz und 53 Kilo leicht, die Erfolge der Amateure in den Alpen und Pyrenäen.
Ihre erfolgreichen Alpen-Attacken brachten den Kolumbianern Einladungen auch zu anderen Rennen ein. Jimenez siegte 1982 bei der Colorado-Etappenfahrt in den USA. Kolumbiens erfolgreichste Profis verdienten bald 100000 Mark im Jahr und mehr. Außer den Mannschaften begannen fünf weitere Kolumbianer die diesjährige Tour in anderen Equipen als begehrte Kletterer.
Die Erfolge trieben dem kolumbianischen Nationalsport neue Talente zu, die auf dem Rennrad aus dem Teufelskreis von Armut und Gewalt fortzustrampeln hofften. Kurz vor der Tour 1984 verlor Nationalfahrer Alfonso Lopez durch eine Schießerei in der Hauptstadt zwei Brüder. Er fuhr trotzdem mit. Präsident Betancur hatte dem Team vor dem Abflug eine Nationalfahne überreicht.
Kolumbiens Kaffeewirtschaft tat sich mit Varta als Sponsor zusammen. Kaffee ist Kolumbiens bedeutendstes Exportgut. »Kaffee und Radrennfahrer«, schrieb »L'Equipe«, seien am wichtigsten »für den kolumbianischen Nationalstolz«. Die zweite Mannschaft rüstete Postobon aus, ein Getränke-Unternehmen.
Als neuer Star profilierte sich Herrera, 25. Er war Gärtner, kam aus der Provinz und brachte mit 1,68 Meter und 56 Kilo fast eine Idealfigur für Bergrennen mit. 1985 kletterte er der Konkurrenz in der Bergwertung der Tour davon. Weil er sogar noch den späteren Gesamtsieger Bernard Hinault gezogen hatte, verwarnte ihn die Rennleitung.
»Die ersten Tage werden teuflisch«, warnte Raphael Geminiani, ein Tour-Veteran, der die Kolumbianer als Technischer Direktor betreut, vor den Flachetappen und Zeitfahren zu Anfang, bei denen jeder einzeln gegen die Stoppuhr antreten muß. Zwar verlor Herrera weniger Zeit in der Ebene als in den Jahren zuvor. Aber das Verhängnis ereilte die Mannschaft »Kolumbien-Kaffee/Varta« dennoch: Beim Mannschafts-Zeitfahren waren vier Fahrer wegen Zeitüberschreitung ausgeschlossen worden.
Dazu verlor Herrera seinen wichtigsten Helfer Fabio Parra durch die Folgen einer Sturz-Verletzung. Er war fast auf sich allein gestellt, als die Tour endlich die erste Pyrenäen-Etappe erreichte. Trotzdem fuhr Herrera auf den beiden ersten Bergetappen vom 73. auf den siebten Platz der Gesamtwertung vor. Aber, zweifelte Herrera, gegen Hinault sei »nichts mehr zu machen«.
Von der Postobon-Equipe, die bis letzten Freitag ebenfalls fünf Fahrer einbüßte, darf Herrera keine Hilfe erwarten. »Wir sind große Rivalen«, bedauerte Postobon-Rennleiter Raul Meza. »Jeder ist seinem Sponsor verpflichtet.«