Teurer Glaube
Die Koffer waren so angefüllt mit Medikamenten, als gehörten sie Besuchern einer Mustermesse für Apotheker. Doch die Tabletten, die den Zöllnern im Mirabel-Flughafen in Montreal entgegenquollen, steckten im Gepäck von Gewichthebern, die von den Weltmeisterschaften in Moskau zurückkehrten.
Vier kanadische Schwerathleten hatten sich bei ihrem Schmuggelversuch an insgesamt 22 515 Anabolika-Pillen und 414 Tabletten mit dem männlichen Geschlechtshormon Testosteron verhoben, beides Drogen, die der Leistungs-Manipulation durch künstliches Muskelwachstum dienen.
»Alles, was man hört und liest, behandelt nur Anabolika und Testosteron«, wunderte sich jedoch Dr. Robert Kerr vom San-Gabriel-Krankenhaus in Kalifornien. Er rühmt sich, Sportler aus 19 Nationen zu beraten. »Die Athleten, die zu mir kommen, lachen darüber. Sie schwören auf HGH.« So lautet die Abkürzung für »Human Growth Hormone«, eine neue, vermeintliche Wunderwaffe auf der Doping-Szene: Somatotropin.
Es handelt sich um ein Wachstumshormon, das Ärzte ursprünglich Kindern gegen Wachstumsstörungen verabreichten. HGH regt die Produktion von Kortison an und päppelt die Muskeln auf wie Anabolika, »nur stärker«, behauptete Kerr. Anders als bei herkömmlichen Muskelmitteln ziehe HGH keine Nebenwirkungen nach sich. Es steht auf keiner Doping-Liste und ist allenfalls 48 Stunden lang nachzuweisen. Dann hat der Körper die Substanz abgebaut.
Professor Manfred Donike, der international anerkannte Doping-Experte aus Köln, wendet gegen das scheinbare Wundermittel allerdings ein, »es ist nicht erwiesen, daß es was bringt«. Auch der Freiburger Sportmediziner Professor Josef Keul kennt »keine Beweise« für eine »vergleichbare positive Beeinflussung der Leistungsfähigkeit«.
Doch Somatotropin verspricht bislang hohen Gewinn. Es wird aus der Hirnanhangsdrüse Verstorbener gewonnen und ist deshalb knapp. Eine Behandlung innerhalb einer vier- bis sechswöchigen Kur kostet bis zu 100 Dollar, die Dreiwochenkur mit Anabolika dagegen weniger als 30 Dollar. Doch wenn es der Leistungssteigerung dient, »auch wenn es die Sportler nur glauben« (Donike), ist manchem Athleten nichts zu teuer.
Die acht US-Gewichtheber, die zur Weltmeisterschaft nach Moskau angereist waren, hatten sich offenbar an altgewohnte, wenngleich verbotene Kraftpillen, sogenannte anabole Steroide, gehalten: Sechs von ihnen schieden durch Fehlversuche aus, einer verletzte sich nach eigener Aussage beim Aufwärmen, einer begründete seinen kurzfristigen Startverzicht nicht. Keiner gelangte in die Ergebnislisten - aber es mußte auch keiner Doping-Wasser lassen.
Doch nach dem Startverzicht der Heber-Staffel hat die Chemie im Sport keineswegs ausgespielt. Schon mehrmals erwiesen sich Siegesmeldungen im Kampf gegen die Doping-Seuche als voreilig. Beim Olympia 1980 in Moskau war bei der Suche nach Anabolika keine Probe positiv ausgefallen.
In Wirklichkeit waren die Pillensünder den Testern um eine Manipulation voraus. Sie waren auf ein anderes leistungsförderndes, noch nicht verbotenes Medikament umgestiegen: Als nach den Spielen der Nachweis eines überhöhten Testosteron-Spiegels im Körper möglich war, zeigte sich bei einer zusätzlichen Analyse, daß mindestens zehn Prozent der untersuchten Medaillengewinner von Moskau gedopt gewesen waren.
Auch bei den Leichtathletik-Weltmeisterschaften im August in Helsinki fanden sich bei den Tests keine verbotenen Stoffe. »Das bedeutet jedoch keineswegs, daß nicht gewisse Drogen eingenommen worden sind«, schränkte der britische Doping-Experte Professor Arnold Beckett ein. »In Wirklichkeit haben wir in einigen Proben Wachstumshormone gefunden.«
Es ist noch nicht einmal gewiß, ob Athleten mit unverfänglichen Proben nicht doch geschummelt haben: Werfer wissen, daß geschluckte Muskelpillen schon wenige Tage nach der letzten Einnahme nicht mehr nachweisbar sind, daß sie ihren Leistungsstand aber über diesen Zeitraum halten können. Deshalb wird mehr geschluckt.
Durch Spritzen aufgenommene Anabolika dagegen fallen bis zu drei Monate auf. Sie bilden im Körper eine Art Depot, aus dem das Medikament nach und nach abgerufen wird. »Beim Schlucken wird durchweg überdosiert«, gab Donike zu bedenken.
Ständige Überdosen, vorwiegend in westlichen Ländern, in denen Doping nicht wie im Ostblock nach jüngsten Erkenntnissen und ärztlich kontrolliert vorgenommen wird, verursachen fatale Nebenwirkungen. Das Risiko von Muskel- und Sehnenverletzungen steigt sofort an. Der finnische Gewichtheber Kaarlo Kangasniemi, ein Olympiasieger und Weltrekordler, war mit Anabolika und Kortison traktiert worden, bis Muskeln und Sehnen nicht länger standhielten. Er hatte etwa 30 Kilo zugenommen.
Während eines Versuchs platzte 1975 ein Muskel in seiner linken Schulter. Die Hantel mit 160 Kilo Eisen streifte seinen Kopf und prallte auf den Nacken. Kangasniemi ist seither arbeitsunfähig. Er nahm 40 Kilo ab.
Die meisten Anaboliker werden aggressiver. Der belgische Rekordstemmer Serge Reding dagegen geriet in eine depressive Phase und tötete sich 1975 selbst. Sein Landsmann Roger Rysselaere brach als belgischer Vizemeister bei der Siegerehrung tot zusammen. Larry Pacifico, US-Weltmeister im Kraftdreikampf der Heber, entging unlängst im Alter von 35 Jahren knapp dem Tod durch fortgeschrittene Arteriosklerose. Drei Arterien waren nahezu verstopft: »Ich bin sicher, der Gebrauch von Steroiden hat dazu beigetragen«, klagte er.
Aggressivität, Impotenz, Leber- und Herzschäden vermuten Sportärzte als mögliche Folgen anhaltenden Anabolika-Mißbrauchs. Testosteron bewirkt bei Frauen Bartwuchs, Baßstimme und schlimmstenfalls Unfruchtbarkeit. Donike fand sogar Indizien, daß die Muskeldrogen Athleten abhängig machen können - eine Art Suchteffekt bewirken. Denn Hormonüberdosen von außen legen womöglich die körpereigene Kortison-Produktion lahm. Bei Verzicht können Entzugserscheinungen auftreten.
Aber als ein US-Arzt privat 100 Läufer befragte, ob sie bereit wären, eine bestimmte Droge zu schlucken, die sie in Jahresfrist töten könne, aber ihnen vorher zum Olympiasieg verhülfe, wollten
50 ihr Leben für eine Goldmedaille einsetzen.
Doping-Kontrollen werden vorerst kaum jemanden daran hindern. Denn sie finden bislang nur bei wenigen, bedeutenden Wettkämpfen wie Olympischen Spielen und Weltmeisterschaften statt. Der Ostblock, aber auch die USA lehnen es ab, Proben unangekündigt während der Trainingsphase einzusammeln.
Als der Internationale Ruderverband im letzten Winter Doping-Kontrollen in Trainingslagern anbot, schlossen sich die DDR und die UdSSR aus, die 37 von bisher 42 WM-Titeln bei den Ruderinnen eingeheimst haben. Ungerührt schickten die Sowjets ihre Fünfkämpferin Nadeschda Tkatschenko und die DDR Kugelstoßerin Ilona Slupianek als überführte Doping-Sünderinnen zu Olympischen Spielen. Beide erkämpften Goldmedaillen.
In den USA hatten bis zum größten Doping-Skandal der Sportchronik bei den Panamerikanischen Spielen im August in Caracas keine Doping-Kontrollen stattgefunden.
Donike, der auch in Caracas die Analysen ausführte, hatte nach harter Diskussion zehn US-Gewichtheber vorab und inoffiziell überprüft: »Acht Fälle waren klar positiv, einer unklar«, ein Heber hatte getrunken.
Dennoch überführten kurz darauf offizielle Tests 19 Athleten, darunter elf Gewichtheber. US-Olympia-Hoffnung Jeff Michels stemmte, siegte dreimal und wurde anschließend des Testosteron-Mißbrauchs überführt. Er mußte seine Goldmedaillen zurückgeben.
Sechs Kubaner blieben ebenfalls bei Donikes Analysen hängen, darunter der Gewichtheber-Olympiasieger Daniel Nunez. Sein Heimatverband sperrte ihn lebenslang aus und seinen Trainer gleich mit. 13 US-Athleten reisten überstürzt ab, als die ersten Testergebnisse nach außen drangen.
»Die Doping-Tests des Internationalen Olympischen Komitees«, verglich dennoch der ehemalige US-Olympiasieger Harold Connolly, der als einer der ersten Anabolika eingenommen hatte, »sind ungefähr so wirksam wie eine internationale Kontrolle von Atomwaffen.« Offenbar weitet sich die gefährliche Muskel-Manipulation unüberschaubar aus.
Denn der zufällige Zöllner-Zugriff von Montreal, der mehr als 20 000 Doping-Pillen zutage förderte, deckte einen schwunghaften Handel und Schmuggel auf. Der mögliche Kundenkreis dürfte weltweit in die Millionen gehen: vor allem Kraftsportler und Bodybuilder, die kaum wie Olympia-Athleten in Gefahr geraten, einer kostspieligen Analyse (pro Test 100 Dollar) unterzogen zu werden.
Eine Anabolika-Packung mit 100 Pillen kostet in der Sowjet-Union den Gegenwert von etwa einem Dollar; in Kanada bringt sie 35 Dollar.