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Fußball Teures Cleverle

Ein 16jähriger trickste den VfB Stuttgart aus und wechselt ohne Ablösesumme nach Italien.
aus DER SPIEGEL 30/1990

Von der Fernsehkamera des Süddeutschen Rundfunks war Sascha Nikolajewicz nicht einzuschüchtern. Er wollte auch dem lokalen Sender »kein Interview gestatten«. Im Platitüden-Stil der Fußball-Größen erklärte der Fußballer, er wolle »keine Unruhe in die Mannschaft bringen« und sich ganz auf das Endspiel zur B-Jugendmeisterschaft gegen den 1. FC Köln konzentrieren.

Dem Einwand des angesäuerten Journalisten, selbst ein Star wie Nationalmannschafts-Profi Jürgen Klinsmann sei weniger kapriziös, begegnete Nikolajewicz, selber ganz Profi, starmännisch kühl: Sein Schweigen hätten bislang alle Medienvertreter akzeptiert.

Der Pennäler aus Ditzingen bei Stuttgart war in der vergangenen Woche bundesweit gefragt. Die Nachricht, er werde - einmalig in der Geschichte des deutschen Fußballs - mit 16 Jahren nach Italien wechseln, füllte zwischen Weltmeisterschaft und Bundesligastart die Sportseiten.

Doch der Umworbene schwieg auf alle Reporterfragen. Die Vermutung, daß der schwäbische Enkel russischer Auswanderer bald in der Jugendelf des Erstligaklubs AC Turin kicken werde, nannte Sascha, der seine stattlichen Oberschenkel beim Training in Radfahrerhosen hüllt, nur »reine Spekulation«. Der Informationsboykott sei »Sache meines Managements«, und das habe seine Lebensgeschichte exklusiv an ein Magazin verkauft.

Auch sonst gerieten die Vorgänge um den 1,80 Meter großen Mittelfeldspieler, den es nach vier erfolgreichen Kickerjahren beim VfB Stuttgart in die Fremde zieht, zur Parodie auf die Wechsel der Topstars. Dem VfB-Geschäftsführer Ulrich Schäfer erklärte der Jungmann salopp, die Bundesliga sei für ihn nicht die »neue Herausforderung«, die er brauche. Er werde das Gymnasium nach der zehnten Klasse verlassen und seine Freundin, eine Abiturientin, mit nach Italien nehmen - ein deutscher Kicker, ob klein oder groß, verläßt nie allein das Vaterland.

Der Rummel um »Deutschlands jüngsten Legionär« (Kölner Stadt-Anzeiger) macht deutlich, daß in Zeiten gigantischer Ablösesummen die Nachwuchsarbeit noch früher einsetzt. Sichteten die Bundesligaklubs ihre künftigen Angestellten bislang unter den 16- bis 18jährigen, so ist heutzutage in dieser Altersgruppe der Markt längst aufgeteilt. Deshalb werben die Vereine schon 14jährige aus Dorfklubs ab, um der Konkurrenz zuvorzukommen.

Der VfB Stuttgart, der sich jetzt über die »italienischen Raubzüge« empört, kontrolliert in dieser Altersklasse (C-Jugend) konsequent den Markt vom Bodensee bis Baden-Baden. Denn wer zu spät kommt, den bestraft eine Vereinbarung, die alle Bundesliga-Präsidenten unterschrieben haben - sie verbietet den Profiklubs untereinander das Abwerben von Jugendspielern.

Die Eltern der Talente wissen um diesen Zwang: So müssen die Klubs nicht nur einen Ausbildungsplatz für den Sohn, sondern oft auch noch einen Job für den Papa besorgen. Nikolajewicz' Mannschaftskamerad Thomas Sobotzik wechselte als 14jähriger nur unter der Bedingung zu den Schwaben, daß Vater Alois eine Arbeitstelle »beim Daimler, sonst nirgendwo« erhält.

Als der VfB Stuttgart sich weigerte, dem Teenager »einen Rentenvertrag auf die Bundesliga« (Jugendleiter Frieder Schrof) zu geben, spielte Nikolajewicz im vergangenen Winter bei mehreren italienischen Klubs zum Probetraining vor. Die Vorführungen des Bewerbers überzeugten. Rund 13 000 Mark monatlich, so wurde Schrof zugetragen, soll das junge Fußball-Cleverle künftig in Italien verdienen.

Auch die Bundesliga wendet Millionen für die Nachwuchsarbeit auf. Der VfB Stuttgart beziffert seinen Jugendetat auf 550 000 Mark. Bayern München hat mit dem zuvor in Bochum und Nürnberg tätigen Hermann Gerland sogar einen Bundesliga-Coach für die kickenden Jungstars engagiert. Doch alle Anstrengungen erscheinen angesichts des Nikolajewicz-Transfers antiquiert.

In Italien, Holland, Frankreich und England beginnt das Profitum im Knabenalter: Der PSV Eindhoven etwa unterhält ein Informationsnetz in Skandinavien, das den Nachwuchs nach Holland empfiehlt. Der französische Erstligist AJ Auxerre verpflichtete vor wenigen Wochen zwei englische Kids. In Italien wechseln 15jährige die Klubs für Beträge bis zu einer halben Million Mark. Für Nicola Zanini, Jahrgang 1974, erhielt Vicenza im vorigen Jahr gar 950 000 Mark.

Weil Durchschnittsprofis aus der ersten Liga schon zehn Millionen Mark Ablöse kosten, beteiligen sich vor allem finanzschwächere Klubs am Preispoker um den Nachwuchs. Ihnen dient die Talentpflege als Einnahmequelle. Vor fünf Jahren hatte der AC Florenz für den damals 17jährigen Roberto Baggio 2,5 Millionen Mark ausgegeben. Jetzt trug das Investment fette Zinsen: Für Baggio, inzwischen Nationalspieler, zahlte Juventus Turin vor wenigen Wochen die Weltrekordsumme von 25 Millionen Mark.

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