DARTS Torpedos in der Smoghölle
Alle Augen sind auf den Meister gerichtet. Keiner sagt etwas, und keiner rutscht auf dem Stuhl herum, in diesem Moment im Lakeside Country Club in Frimley Green, einem Nest vor den Toren Londons. Das Mädchen mit den nackten, blassen Teenie-Schultern, das vorn links in der dritten Reihe sitzt, hat seine Hand auf dem Schenkel seines Begleiters vergessen. Der Begleiter hat das Mädchen vergessen und nuckelt an einer Kippe, die schon lange nicht mehr brennt. Ein Junge mit rasiertem Schädel schnappt aus zahnlückigem Mund nach Luft. Auf den Tischen fällt der Schaum in den Biergläsern zusammen. Die Zeit steht still, die Welt ist eine Scheibe und hat einen Namen: Darts.
Der Meister spielt wie im Rausch, dabei sieht er an diesem Samstag aus wie ein eiskalter Zocker. Die Augen sind dunkle Striche, und das Gesicht verrät weder Freude noch Verzweiflung. Es ist sein Auftaktmatch beim prestigeträchtigsten Darts-Turnier der Welt: den World Professional Darts Championships. Dotiert mit 275 000 Pfund, der BBC eine Live-Berichterstattung wert und übertragen in 54 Länder mit 19 Sprachen.
Der Meister heißt Mervyn King, er ist 39 Jahre alt, Engländer und befindet sich auf Rang eins der Setzliste. Sein Gegner ist klein und dick und schwitzt. Er steht einsam auf der Bühne und nagt an der Unterlippe, als erwartete er seinen Henker. Er weiß, dass er verloren hat. King fehlen nur noch acht Punkte zum Sieg.
Eine leichte Übung für ihn, denn er besitzt die perfekte Wurftechnik. Schlechte Darter werfen mit dem ganzen Arm, beugen die Knie und strecken den Oberkörper, um den Pfeil aufs Brett zu befördern. King aber steht ganz ruhig vor der Scheibe. Er fixiert den Oberarm. Der Schwung kommt nur aus dem Ellenbogen und dem Handgelenk. Die Finger folgen dem Pfeil und geben dem Wurf so den letzten Schliff. Wer nicht locker ausschwingt, verreißt. Kings Pfeil trifft wie von einem Laser gesteuert ins Ziel.
Die Spannung im Saal entlädt sich explosionsartig. Was bei den meisten Kontinental-Europäern bestenfalls ein Achselzucken hervorgerufen hätte, führt hier zur kollektiven Ekstase. 1200 Menschen springen auf, und zur Melodie von »Guantanamera« grölen sie: »There's only one Mervyn King! One Mervyn Kiiii-ing! There's only one Mervyn Kiiiii-ing!«
In England ist Darts eben mehr als nur ein Kneipensport. Es ist Volkssport. Erfunden im Mittelalter von ein paar gelangweilten Bogenschützen, die zum Zeitvertreib ihre Pfeile kürzten und auf Baumstammscheiben schleuderten.
Heute frönen dem Vergnügen 7 Millionen Briten in 50 000 Clubs. Und beim letzten WM-Finale in Frimley Green fieberten bis zu 10 Millionen Engländer vorm Fernseher mit. Das schafft üblicherweise nicht mal die Formel 1 oder Tennis in Wimbledon. Darum sind die besten Darts-Spieler auf der Insel auch richtige Stars, die üppige Gagen kassieren. Andy »The Viking« Fordham, Ted »The Count« Hankey und Phil »The Power« Taylor genießen in England einen Bekanntheitsgrad wie die Fußballer David Beckham, Wayne Rooney und Rio Ferdinand.
Briten lieben Darts, weil es das »Nachglühen ihres Weltreichs« symbolisiert, meint der Autor Martin Amis. Darts hat außerdem simple Regeln und sieht einfach aus.
Geworfen wird aus 2,37 Meter Entfernung, und die Mitte der Scheibe, die aus 16 Millionen gepressten Sisalfasern besteht, hängt 1,73 Meter hoch. Das Brett ist in schwarze und weiße Segmente von 1 bis 20 unterteilt. Schmale Drahtringe am Rand
und innerhalb des Boards bilden Bonusfelder, die kleiner sind als der Papierstreifen in einem Glückskeks: Der äußere Abschnitt zählt zweifach, der andere dreifach. Nach jeweils drei Würfen ist der Kontrahent dran. Gewonnen hat, wer zuerst von 501 Punkten auf null Punkte kommt. Der einzige Haken: Der letzte Pfeil muss immer im Doppelring, also in einem äußeren Bonusfeld, landen oder im Zentrum, dem Bull's Eye.
Der schnellste Weg zum Erfolg ist ein 9-Pfeile-Finish. Zum Beispiel 7-mal die Dreifach-20, eine Dreifach-15 und eine Zweifach-18 für 501 Punkte. Ein 9-Darter ist so etwas Ähnliches wie ein 147er-Break beim Snooker oder ein Hole-in-one beim Golf: Selbst die besten Spieler bringen nur selten dieses Kunststück fertig. Deshalb wird es in Frimley Green mit einem Extra-Scheck über 51 000 Pfund honoriert.
Darts gerät zum Ende eines Durchgangs zur komplizierten Rechenaufgabe. Der Spieler muss innerhalb von Sekunden wissen, wo er treffen muss, ob er die Dreifach-17 oder die Zweifach-9 anzupeilen hat, und landet ein Pfeil auch nur einen Millimeter daneben, dann ist der Lösungsweg sofort ein ganz anderer.
Und darum braucht der Spieler nicht nur einen präzisen Verstand, sondern auch präzises Material. Die Könner bevorzugen einen Pfeil mit weicher Stahlspitze und Sechs-Millimeter-Gewinde. Hauptgewicht und Griff zugleich ist der Barrel, der aus Messing oder Chrom bestehen kann. Die Profis aber wählen Wolfram. Das Metall verfügt über ein sehr hohes spezifisches Gewicht und ermöglicht schlanke Darts, die auf der Scheibe wenig Platz wegnehmen.
Darts ist eine Frage der Ballistik. Es gibt gerillte und glatte Barrels, geformt wie ein Zylinder, ein Torpedo oder ein Fass. Hinzu kommen die Flights. Der Flight, das Ende des Darts, stabilisiert die Flugbahn. Er ist aus Nylon, Federn oder Seide. Ein guter Pfeil bleibt nach geradem Flug fest und rechtwinkling stecken. Schräge Einstiche sind verdächtig: Hängt der Pfeil, ist er zu schwer; zeigt der Flight zu sehr nach oben, ist er zu leicht.
Bei der Weltmeisterschaft in Frimley Green, die von der British Darts Organisation veranstaltet wird, starten 32 Spieler aus 7 Nationen.
Andy Fordham, Titelträger 2004, sitzt im Lakeside Country Club hinter der Bühne an der Bar. In seiner rechten Hand ruht eine Flasche Holsten. Es ist nicht das erste Bier, das ihm der Wirt an diesem Nachmittag zugeschoben hat. Die Uhr zeigt kurz vor drei, und Fordham rudert am Rand einer Narkose.
Eine halbe Stunde hat er noch, um seine Nerven zu betäuben. »Eine Menge Kerle können ganz ordentlich Pfeile werfen, aber wenn sie im Scheinwerferlicht stehen«, sagt er und zeigt zur Tür und dem Saal dahinter, »wenn sie da stehen, dann zittern sie, als hätten sie Parkinson.«
Die Spieler benötigen aber die ruhige Hand eines Chirurgen. Deshalb trinken sie vorm Match. »Den Wurfarm lockern«, sagen sie dazu. Man sollte nie von einem Darter verlangen, auf sein kühles Blondes zu verzichten. Das wäre so, erklärte die britische Darts-Legende Cliff Lazarenko in den Siebzigern, »als würde man von Mark Spitz verlangen, in 50 Zentimeter tiefem Wasser Weltrekord zu schwimmen.« Es geht einfach nicht.
Fordham, 43, ist der Liebling der Fans. Ein 170-Kilo-Koloss aus Kent, in dessen Fingern die Pfeile aussehen wie Zahnstocher. Er trägt eine Mantafahrer-Frisur und hat Unterarme wie Popeye. Er ist seit zehn Jahren Profi, davor war er arbeitslos, inzwischen hat er ausgesorgt.
Mister Fordham, wie oft trainieren Sie?
»Ich trainiere nicht.«
Was machen Sie die ganze Zeit?
»Ich trinke.«
Nach eigenem Bekunden 20 Flaschen Pils am Tag. Vor einer Weile hat er gefordert,
John »Boy« Walton, der Nummer sechs der Weltrangliste, das Darten zu verbieten, weil der vor den Matches immer trocken bleibt. Andererseits hat Fordham mal seinen Gegner Colin Monk vor einem Spiel derart abgefüllt, dass dessen Pfeile überallhin flogen, nur nicht aufs Brett.
Das Publikum passt sich den Usancen seiner Idole an. Während des neuntägigen Turniers werden etwa 52 800 Glas Bier vertilgt. Weil außerdem fast jeder raucht, herrscht im Saal Smogalarm. Da mutet es schon skurril an, dass die Profis während des Spiels weder qualmen dürfen noch Alkohol trinken. Im Champagnerkühler auf der Bühne lagert Tafelwasser.
Jedes Match beginnt mit der ausgiebigen Präsentation eines Heinz-Schenk-Verschnitts, der seinen kapitalen Bauch aufs Podium walzt. Der Zeremonienmeister Martin Fitzmaurice reißt erst einen Schwulenwitz über Elton John, dann beschwört er die Zuschauer, die wie beim Bingo an langen Tischen sitzen, sich zu benehmen: »Ladys and Gentlemen, bitte stellen Sie sich nicht auf die Stühle oder die Tische.«
Fordham, der wegen seines Vollbarts den Spitznamen »Wikinger« trägt, trennt sich vom Tresen, als er hört, dass er nebenan angekündigt wird. Durch eine Wolke aus Trockeneis entert er die Bühne zum Lied »I'm Too Sexy«. Seine Anhänger tragen Wikingerhelme aus Plastik.
Schnell gelingen Fordham 180 Punkte, das beste Ergebnis, das ein Spieler mit drei Würfen erzielen kann. Und eine Tat, die beim Schiedsrichter orgastisches Geschrei hervorruft: »One hundred and aye-teeee!« Doch beim nächsten Versuch verfehlen Fordhams Pfeile die punktereichen Segmente. Danach muss er quasi machtlos zusehen, wie sein Gegner das Match gewinnt. Das ist das Tückische am Darts: Es gibt einfach keine Möglichkeit, sich gegen eine Niederlage zu wehren. Keine trickreichen Konter auf eine Taktik. Man kann nur beten, dass der Rivale Fehler macht.
Oder ihm das Schlimmste passiert: Dass er die Hand hebt zum Wurf und plötzlich unfähig ist, seinen Pfeil mit der notwendigen Selbstverständlichkeit abzufeuern. »Dartitis« nennen Spieler das Phänomen renitenter Finger.
Der Holländer Albertino Essers hat daran gelitten. Es begann bei der WM 2003. »Von einer Sekunde auf die andere habe ich den Pfeil nicht mehr aus der Hand gekriegt«, sagt er. Ständig verlor er Matches, bei denen er eigentlich uneinholbar vorn lag. »Es hat mich fast um den Verstand gebracht.«
Es gibt Spieler, die versuchen mit autogenem Training, ihr inneres Gleichgewicht wiederzufinden. Andere lehnen die Scheibe gegen ein Tischbein, sinken auf die Knie und üben aus einem Meter Distanz. Essers fing an zu angeln. Nach 20 Monaten gewann er die Kontrolle über seine Finger zurück. So überraschend, wie er sie verloren hatte.
Mancher wird von Dartitis heimgesucht und findet nie mehr zu alter Klasse zurück. Eric Bristow, 1989 von der Queen zum »Member of the British Empire« ernannt, hat fünfmal in Frimley Green gewonnen. Doch nach der Blockade konnte er den Ort seiner größten Triumphe nie mehr mit Siegerscheck verlassen.
Ausgerechnet ein Holländer schickt sich nun an, Bristows Rekord in Frimley Green zu egalisieren: Raymond van Barneveld, ein gelernter Postbote aus Den Haag, ist ein gewissenhafter Mensch mit rosigen Wangen, weshalb er in der englischen Darts-Szene als Langweiler gilt.
Van Barneveld, 38, hat keine Tattoos und gepflegte Zähne. Er geht während der WM jeden Morgen eine Stunde spazieren, dann schwimmen und in die Sauna. Er trainiert zwei Stunden am Tag und genehmigt sich vorm Match nur »drei bis vier« Bier. Abends amüsiert er sich mit einem Computerspiel und geht zeitig ins Bett. Ein grauer Star: abgekocht und clever, aber blind, was die Sehnsucht der Fans nach Skandalen angeht. Sein Kampfname ist »Barney«, nach Barney Geröllheimer, dem uncoolen Nachbarn von Fred Feuerstein, der am Ende immer recht hat.
Der Champion des vergangenen Jahres ist ein Scharfschütze. Mit zehnmal drei Pfeilen erreicht er 1480 Punkte. Van Barneveld war der erste Festland-Europäer, der jemals den Pokal stemmen durfte. Das war 1998, seitdem ist er Profi und in den Niederlanden so berühmt wie Wilhelm Tell in der Schweiz. Er hat in seiner Heimat einen Darts-Boom ausgelöst, hinter Fußball und Eisschnelllaufen ist das Pfeilewerfen mittlerweile Sportart Nummer drei.
Natürlich ist van Barneveld längst Millionär. Er spielt 25 Turniere im Jahr, sein Honorar für einen zweistündigen Schaukampf beträgt 3800 Euro. Manchmal absolviert er drei Auftritte am Abend. Er sagt: »Ich verdanke Lakeside mein Leben.«
Darts hat auch Bobby »The King« George zu einem reichen Mann gemacht. Seinen ersten Pfeil hat er mit 29 geworfen, vorher hatte er Tunnel gegraben und Granitplatten verlegt. Jetzt trägt der 60-Jährige an vier Fingern der linken Hand jeweils einen breiten Goldring, am Gelenk baumelt eine diamantenbesetzte Rolex und um den Hals eine Kette, die um ein Panzerrad passen würde. Seine Frau ist etwa halb so alt wie er, sie leben in einem Anwesen mit 37 Zimmern.
Der Altmeister hat Darts-Geschichte geschrieben. Er hat in Las Vegas gespielt, im Nahen und im Fernen Osten. Für Frimley Green konnte er sich nicht qualifizieren. Deshalb hat ihn die BBC als Kommentator verpflichtet.
»Darter sind gesellige Menschen«, sagt er. »Unsere Fußballer sind alle hochnäsig. Genauso in Amerika: Da gibt's im Sport auch nichts zu lachen. Amerikaner wollen immer nur gewinnen. Darter sind anders. Wir wollen vor allem Spaß haben.« Er kenne unzählige Storys über Darts und Bier und schöne Frauen.
Hat er schon mal daran gedacht, sie in einem Buch für die Nachwelt festzuhalten?
Nein, antwortet er. Erstens sei er Legastheniker. Und zweitens will er den Jungs an der Theke nicht die Schau stehlen: Darts-Anekdoten gehören erzählt, nicht gedruckt. MAIK GROßEKATHÖFER