Toursieger Jan Ullrich Der gefallene Märchenprinz

Jan Ullrich bei seinem bravourösen Etappensieg in Andorra
Foto: Peter Dejong / APDie Schlussetappe dieser Tour de France startete in Disneyland, und die Veranstalter wussten vielleicht selbst nicht, mit welcher Symbolik sie die Frankreichrundfahrt von 1997 damit bedacht hatten. Jene Tour de France war für die Deutschen eine Traumwelt, man ließ sich bezaubern von der Überlegenheit des Jan Ullrich, man wollte sich bezaubern lassen, Popcorn für ein ganzes Volk - und Jan Ullrich schien ihr Märchenprinz zu sein, den keine Dornenhecke aufhalten konnte, kein Berg der ersten Kategorie.
Irgendwann war das Märchen zu Ende.
"Deutschland. (K)ein Sommermärchen" so heißt die Dokumentation von Ole Zeisler und Ben Wozny, die diese drei vermeintlich zauberhaften Wochen in Frankreich nachzeichnet und am Samstagnachmittag im NDR-Fernsehen zu sehen ist. Die erste und einzige Tour de France, die von einem Deutschen gewonnen wurde. Jan Ullrich, dieser vor Energie strotzende Junge aus Rostock, dieses Kraftpaket, "ein Jahrhunderttalent des Radsports", ruft ARD-Livekommentator Jürgen Emig euphorisiert während der 10. Etappe nach Andorra aus, bei der sich Ullrich so beeindruckend ins Gelbe Trikot fuhr. Um es bis zum Schluss nicht mehr abzugeben.
Ein Volk trug Rosa
Mehr als neun Minuten Vorsprung hatte er in Paris auf der Uhr, so einen die Tour dominierenden Fahrer hatte es zuvor mehr als zehn Jahre nicht gegeben. Und Deutschland hatte einen neuen Sporthelden. Einer, der es mit dem Wimbledonsieger Boris Becker aufnehmen konnte. Ein ganzes Volk trug Rosa. Pardon, Magenta.
Zeisler und Wozny lassen diese Zeit wiederaufleben, indem sie die Originalkommentare aus den TV-Übertragungen laufen lassen. Die Begeisterung der Reporter, ihre sich überschlagenden Stimmen, die Schlagzeilen in den Zeitungen, die sich gegenseitig mit Superlativen überhäufen.
Jedoch kurz bevor einen die Faszination von Ullrichs Überlegenheit einholt, bevor die Versuchung siegt, noch einmal überwältigt zu werden vom Ungestüm dieses Toursommers 97, drehen Zeisler und Wozny geschickt eine Schleife zu dem Thema, das die Faszination letztlich erstickt hat. Doping. Das Wort, das hinter den übermenschlich scheinenden Leistungen der Radprofis steckte.

So sieht ein Volksheld 1997 aus
Foto: Roland Weihrauch / APDazu lassen sie Kronzeugen zu Wort kommen, die selbst verstrickt waren in das System Telekom, in das System Doping. Rolf Aldag und Udo Bölts waren die Teamkollegen Ullrichs in jenem Jahr, ohne Bölts und dessen berühmten Anschnauzer "Quäl dich, du Sau" hätte es Ullrich vielleicht nicht über die Vogesen geschafft. Aber Aldag und Bölts sind mittlerweile vor allem so weit, Sätze zu sagen wie: "Doping hat bei der Tour dazugehört" (Bölts) und "Dass die Fans sich im Nachhinein betrogen fühlen, das kann man nachempfinden" (Aldag) und "Der Radsport hat auch danach immer weiter Scheiße produziert" (noch mal Aldag).
Ullrich macht keinen reinen Tisch
Sie beide hatten nicht den ganz großen Rucksack zu schleppen, den Ullrich als neuer Volksheld mit sich herumtrug, das mag ihnen bei der einen oder anderen Einsicht geholfen haben, dennoch: Von Ullrich vor allem hätte man sich solche Sätze gewünscht. Irgendwann.
Dass es so weit kommen konnte, dass sich Doping wie allmorgendlicher Tau auf diese Sportart legen konnte, das liegt auch an der Sichtweise, die Bölts in dem Film so benennt: "Wenn man in den Krieg zieht, dann will man auch mit den gleichen Waffen kämpfen, die die anderen auch haben." ARD-Reporter Florian Naß spricht im Nachgang vom "Wettrüsten". So wichtig nahm sich der Sport selbst, so wichtig wurde er aber auch wahrgenommen.
Daher ist die Geschichte des gefallenen Helden Jan Ullrich auch eine Geschichte der Öffentlichkeit, die ihn in den Himmel hob. In einer entlarvenden Passage des Films schneiden Zeisler und Wozny Interviewschnipsel von ARD-Mann Emig aneinander, in denen er die Telekomfahrer sowieso nur mit Vornamen anredet und sie in den Arm nimmt. Hier kommt der Große Zampano. Ein Interview mit Telekom-Teamchef Walter Godefroot beendet er in vollständiger Distanzlosigkeit mit dem Satz: "Sie sind ein toller Trainer, Sie haben ein tolles Team, und ganz Deutschland ist stolz auf das Team Deutsche Telekom."

Richard Virenque und Jan Ullrich - beide später vom Doping eingeholt
Foto: Gero_Breloer/ picture-alliance / dpaFast ist es schon eine Anekdote, dass Emig anschließend mindestens genauso tief stürzte wie die Radprofis, an die er sich herangeschmissen hatte, und wegen Bestechlichkeit und Korruption sogar ins Gefängnis ging.
Es ist das Verdienst der Filmemacher, dass sie trotz allem die Leistung Ullrichs aus jenem Jahr hinter dem Dopingthema nicht komplett verschwinden lassen, all die Anstrengungen, die Wucht seines Antritts. Das ist es ja, was diesen Satz "Quäl dich, du Sau" so bleibend macht, weil in ihm beides steckt: Die Qualen, die die Profis auf sich nehmen – und die Sauereien, die sie für den Sieg in Kauf zu nehmen bereit sind.
Das Warten darauf, wachgeküsst zu werden
Bölts nennt es eine "Lebenserfahrung, wie es ist, erst ganz oben zu stehen und dann nach ganz unten zu fallen", er spricht es fast leichthin aus, 23 Jahre später. Während Ullrich auch in dem NDR-Film nur mit alten Bildern zu Wort kommt, weil er solche Sätze auch 2020 noch nicht sagen kann. So wie ihn der Ruhm überforderte, so überforderte ihn auch der Umgang mit dem Thema Doping, als es aus dem Geraune von davor plötzlich seinen Weg in die breite Öffentlichkeit fand. Ullrich war der Märchenprinz, der immer noch darauf wartet, selbst wachgeküsst zu werden.
Er "konnte nicht aus seiner Haut, hat sich in sein Schneckenhaus verkrochen", wie der klarsichtige ehemalige Sportreporter der "Süddeutschen Zeitung", Andreas Burkert, in dem Film sagt. Und er sagt auch: Irgendwann habe Ullrich den Moment verpasst, sich öffentlich zu bekennen. "Mal ehrlich: Wem hilft heute noch ein Geständnis von Jan Ullrich?"
Kein Sommermärchen oder ein Sommermärchen – das lassen die Autoren offen. Die Nähe zur Fußball-WM 2006 ist sicher kein Zufall: das Ereignis, das in Deutschland so viel Spaß machte und dennoch ebenso nachträglich mit Lug und Trug in Verbindung kam. Der kommerzielle Spitzensport und seine beiden Seiten, ohne einander kaum noch zu denken: hell und dunkel, sozusagen Cinderella und Malificent.
Auf den Champs Élysées, nach der letzten Etappe, befragte Emig damals Jan Ullrichs Mutter, was sie jetzt bewege. Sie antwortete: "Ich bin vor allem froh, dass es vorbei ist."
Deutschland. (K)ein Sommermärchen. NDR Fernsehen, Samstag 14 Uhr