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Leichtathletik Tränen, Trost und Salsa

Von der Außenwelt abgesperrt, geriet ein Kellergewölbe zum Partyzimmer und Krankenbett der Sportler.
aus DER SPIEGEL 32/1996

Pauline Davis sitzt auf dem roten Kunststoffteppich, die Füße mit den blaulackierten Nägeln hat sie weit von sich gestreckt. Sie atmet in kurzen, tiefen Zügen. Die junge Frau von den Bahamas scheint vor Erschöpfung zu keiner Regung mehr fähig.

Da hält ihr jemand ein Mikrofon vors Gesicht, was prompt neue Kraft im Körper der 400-Meter-Läuferin weckt. Ihren Trainer und einen Masseur, die sie so dringend gebraucht hätte, schimpft sie los, hätten nicht in die USA mitfahren dürfen. »Die Funktionäre verschleudern so die Ressourcen der Karibik«, zischt die Olympiavierte durch die Zahnspange, »das macht mich krank.«

Im Olympiastadion von Atlanta haben die Leichtathleten das in Tausenden Stunden erworbene Können wie Schauspieler auf der Theaterbühne gezeigt. Sie wurden bejubelt und ausgepfiffen. Aber die aufgestauten Emotionen lösen sich erst dort, wo keine Kameras hinschauen: in den ungastlichen Stadion-Katakomben, unter notdürftig verkleideten Abwasserrohren und baumdicken Kabelsträngen.

Das von der Außenwelt durch Absperrgitter getrennte Areal unter der Haupttribüne, »Mixed Zone« genannt, ist Partyzimmer und Krankenbett zugleich. Hier schrumpfen Athleten, die im Scheinwerferlicht des Stadions noch übernatürlich stark und kräftig erschienen, schnell auf die Größe gewöhnlicher Lebewesen.

Die Verwandlung erfolgt inmitten von Waschkörben. Darin hatten die Läufer, Springer und Werfer ihre Trainingsanzüge vor dem Start deponiert, jetzt kramen sie wie geistesabwesend in der Wäsche. Und während sie sich anziehen, leiden die Geschlagenen stumm in sich hinein oder palavern drauflos. Die Erfolgreichen feiern laut oder genießen leise.

Einige wenige wie Pauline Davis nutzen das unerwartete Interesse an ihrer Person als politische Plattform. »Ich tue das alles, damit die Kids auf den Bahamas ein wenig Freude haben«, sagt sie. Davis Kamoga aus Uganda, der überraschende Bronzemedaillengewinner über 400 Meter, trocknet sich mit langsamen Bewegungen sorgfältig von oben bis unten ab. Als er fertig ist, platzt es aus ihm heraus: »Ganz Uganda wird glücklich sein.«

Ana Fidelia Quirot zelebriert mit herbeigeeilten Freunden den Gewinn ihrer Silbermedaille. Die 800-Meter-Läuferin, die vor drei Jahren einen Brandunfall schwer verletzt überlebte, ist Fidel Castros Liebling. Und auch all die Journalisten, Radioreporter und Kameraleute verehren Kubas Nationalstolz enthusiastisch. Für einen Augenblick kommt in dem Kellergemäuer Salsastimmung auf.

Für die Frustrierten, die daneben auf den billigen Alubänken hocken, steigert das spontane Freudenfest nebenan noch den Schmerz der Niederlage. Die Russin Jelena Afanassjewa, soeben immerhin Fünfte über 800 Meter geworden, schütteln Weinkrämpfe. Der Australier Dean Capobianco, der sich trotz einer positiven Dopingprobe sein Startrecht erstritt, ist im Zwischenlauf über 200 Meter ausgeschieden. Nun muß er das Gespräch mit einem Radioreporter unterbrechen, weil ihm die Tränen in die Augen schießen.

Den Gescheiterten fällt es schwer zu begreifen, daß der Lohn für jahrelanges Schuften ausgeblieben ist. Hürdenläufer Emilio Valle wirft die grüne Plastikkiste mit seiner Trainingskleidung auf den Boden, abwechselnd kaut er an den Fingernägeln oder vergräbt seinen Kopf in den Händen. Als er die Wiederholung seines Laufes auf dem Monitor sieht, springt er auf, jubelt kurz und sackt anschließend in sich zusammen: Es hatte für einen kurzen Moment so ausgesehen, als habe er doch eine Medaille gewonnen - aber das eingeblendete Endresultat gibt ernüchternde Gewißheit: Fünfter.

Mike Powell, der geschlagene Weltrekordler im Weitsprung, trauert im familiären Kreis. Seine Mutter hängt sich dem Olympiafünften um den Hals, streichelt ihm sanft die Wangen und den kahlrasierten Schädel.

»Ich bin noch nie so schlecht gelaufen wie hier. Und du?« fragt die norwegische Hürdensprinterin Lena Solli-Reimann ihre deutsche Kollegin Kristin Patzwahl.

Sie erhält nur eine knappe Antwort, es wird nicht viel geredet auf dem Friedhof der Träume in Atlanta. Die meisten wollen mit ihrer Freude oder ihrem Kummer allein sein. Nur Grit Breuer muß reden: Die 400-Meter-Läuferin aus Neubrandenburg leiht sich ein Handy aus, um mit ihrem Freund und Trainer Thomas Springstein, der auf der Tribüne sitzt, den gerade beendeten Lauf zu besprechen.

Auch die Kenianer bilden eine Ausnahme, sie hocken meist zu zweit oder zu dritt zusammen. Philip Kibitok wirft vor Freude eine Wasserflasche durch den Raum, als er am Fernseher sieht, wie sein Landsmann David Kiptoo ins 800-Meter-Finale stürmt.

Bei den Ostafrikanern findet endlich auch 800-Meter-Mann Johnny Gray seine Zuhörerschaft. Der flippige US-Boy mit den goldenen Ohrringen muß einfach irgend jemandem jede Phase seines Rennens erzählen. Er steppt nach links und nach rechts, schnippt mit den Fingern. Sein lautstarker Vortrag wirkt in der Mixed Zone so deplaziert wie das Grölen eines Fußballfans auf einer Beerdigung.

Jeder versucht auf seine Art die mit Enttäuschung verbundene Erschöpfung zu verarbeiten. Sandie Richards aus Jamaika schleppt sich mit letzter Kraft zur Umkleidebank; dort bleibt die 400-Meter-Läuferin regungslos liegen. Der britische 800-Meter-Mann Robb Curtis starrt minutenlang wie irre in die Ferne. Der Brasilianer Eronilde de Araujo hat sich nach seinem 400-Meter-Hürdenlauf flach auf den Boden gelegt, die Spikes benutzt er als Kopfkissen, seine Beine zappeln spastisch.

Und selbst Haile Gebrselassie, der mit scheinbar übernatürlichen Energien ausgestattete Olympiasieger über 10 000 Meter, leidet. Er spritzt sich eiskaltes Wasser auf seine Füße. Die Zehen sind blutig unterlaufen, mühsam steckt der Äthiopier seine geschwollenen Füße in die bereitstehenden Badelatschen. »Wer hat nur diese schreckliche Bahn gebaut?« fragt er und läßt sich beim Abgang von Helfern unter die Arme greifen.

Michael Johnson dagegen gebärdet sich, als sei auch dieses trostlose Loch im Stadionbauch noch ein Laufsteg. Als müßten sie die dicke Goldkette bewachen, die der Olympiasieger beim Ausziehen des Trikots freilegt, begleiten zwei FBI-Männer ihn bei jedem Schritt.

Der Deutsche Nico Motchebon ("Ich laufe nicht bis zur Bewußtlosigkeit") lehnt sich lächelnd zurück, als sitze er auf einer Parkbank. Sein Ziel, das Finale, habe er ereicht. Nun könne er alles weitere »locker angehen«. Danach schallt es aus der Mixed Zone wie aus dem Urwald: Motchebon stößt jenen Schrei aus, den einst Tarzan berühmt gemacht hat.

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