SKISPRINGEN Training auf Retorten-Schnee
Ein paradoxes Schauspiel vermag der Höhenluftkurort Bischofsgrün im Fichtelgebirge seinen Feriengästen seit Anfang Juni zu bieten: Zünftige Skisprung-Konkurrenzen mitten im Sommer.
Der Bischofsgrüner »Ski-Club 1909« hat seine Ochsenkopf-Sprungschanze, die bisher nur während weniger Schneemonate brauchbar war, mit chemischen Mitteln in die erste westdeutsche Ganzjahresschanze verwandelt. Auf dieser Schanze, die zu Pfingsten eröffnet worden ist, können Westdeutschlands Skispringer fortan auch in schneefreien Zeiten wie auf Schnee trainieren.
Die Skisportler von den Abfahrt- und Langlauf-Disziplinen haben sich seit je auch außerhalb der Schneesaison leidlich, aber sportartgerecht in Form halten können - mittels Wasserskiern oder auf dem Skiroller des Pforzheimer Autotechnikers Oskar Rösch (SPIEGEL 49/1955). Dagegen mußten die Sprungläufer mit allgemeinem turnerischen Konditionssport vorliebnehmen, bis wieder Schnee auf ihre Sprungschanzen gefallen war.
Aber sogar im Winter waren die Übungszeiten der Skispringer karg bemessen. Bevor sie sich recht eingesprungen hatten, mußten sie bereits bei in- und ausländischen Meisterschaften antreten. Nur wohl habende Klubs konnten sich den Luxus leisten, den Trainingsbeginn ihrer besten Springer vorzuverlegen. Diese Springer mußten dann ins nördliche Finnland oder in die alpinen Frühschneegebiete reisen. Dem Gros, darunter dem Nachwuchs, blieb nur der kurze deutsche Winter.
Den ersten Versuchen, diese Ungunst der Natur mit künstlichen Mitteln wettzumachen, war kein rechter Erfolg beschieden. Man experimentierte mit Kokosmatten und Stroh als Gleitmaterial. Die hellen Berliner probierten es mit einem Hügel aus Besen und mit einer Kleinsprungschanze, deren Gleitbahn aus Tannennadeln bestand.
Daß es bessere Lösungen geben mußte, wurde den westdeutschen Skispringern klar, als ihre Kollegen aus der Sowjetzone bei den Olympischen Winterspielen 1956 in Cortina d'Ampezzo überraschend gut abschnitten. Die Bundesdeutschen vermochten sich mit knapper Not beim Durchschnitt zu placieren, die Mitteldeutschen aber lagen mühelos in der internationalen Spitzenklasse. Sowjetzonen-Meister Harry Glass gewann die Sprunglauf-Bronzemedaille.
In Bischofsgrün, das an der Interzonengrenze liegt, kam man schnell hinter das Geheimnis der Mitteldeutschen: Sie hatten in Oberhof eine Schanze, auf der sie auch ohne Schnee trainieren konnten.
Sowjetzonen-Staatstrainer Hanns Renner, der vor Jahren einer der besten deutschen Skispringer war, hatte mit Hilfe einer thüringischen Bürsten- und Pinselfabrik als Schanzenbelag ein perlonähnliches Produkt - Elaston - ausgeklügelt, einen Kunststoff, dessen Aussehen an die Fransenröckchen der hawaiischen Hula-Hula-Mädchen erinnert.
In einem wichtigen Punkt übertraf der thüringische Schnee-Ersatz den echten Schnee sogar: Mit Kunststoffmatten läßt sich die Anlaufbahn einer Schanze gleichmäßiger belegen als mit Schnee. Dieser Faktor verringert die Unfallgefahr, die auf Schneeschanzen (durch Vereisung der oberen Anlaufstrecke oder durch trockenen Schnee) besonders groß ist.
Die Bischofsgrüner machten in Oberhof Trainingsbesuch und überzeugten sich. Auf der Sommerschanze mit ihren federnden Matten gab es um zwei Drittel weniger Stürze als auf üblichen Winterschanzen. Der Bischofsgrüner Ski-Club 1909 beschloß daraufhin, seine Ochsenschanze mit Kunststoff zu verkleiden.
Club-Vorsitzender Dr. Hermann Meyer und Pressewart Dr. Anton Rauscher fahndeten bei bundesdeutschen Bürstenmachern nach einem zweckmäßigen Sprungschanzenpolster à la Oberhof. Allerdings sollten die Borsten (oder Fransen) nicht scharfkantig - wie in Oberhof -, sondern rund sein, um Verletzungen bei Stürzen auszuschalten.
Bei ihrer Suche stießen die Doctores Meyer und Rauscher in dem Odenwalddorf Beerfelden auf den Pinselfabrikanten Albert Wettberg, der Kehrichtbesen aus dem Kunststoff Polyvinylchlorid herstellt.
Bald produzierte Fabrikant Wettberg für Bischofsgrün Fransenmatten von 0,30 Quadratmetern (60 mal 50 Zentimeter). Kostenpunkt: annähernd 50000 Mark. 12 000 Mark spendeten die 2500 Einwohner von Bischofsgrün. Den Rest brachten der Ski-Club 1909, der Kreistag und die Industrie auf. Landrat Dr. Kohut selbst hatte sich deswegen an die Firmen gewandt.
Was an körperlicher Arbeit zu tun blieb, leisteten Mitglieder und Nichtmitglieder des Bischofsgrüner Ski-Clubs in freiwilligen Arbeitsstunden. Sie belegten die Anlaufbahn ihrer Ochsenschanze mit Brettern, auf denen die Plastikmatten aus dem Odenwald - wie Dachziegel verlegt - mit Nägeln befestigt wurden.
Das 120 Meter lange Aufsprungfeld bepackten die Freiwilligen zunächst mit einer dicken Torfschicht, die durch engen Maschendraht festgehalten wird. Die eigentliche Aufsprungbahn, die mitten durch das Aufsprungfeld verläuft, besteht ebenfalls aus Kunststoffmatten. Die Seiten des Absprungfeldes sind mit Moos und mit Strohmatten - von Bischofsgrüner Hausfrauen geflochten tapeziert.
Kurz vor Pfingsten ließ Ski - Clubtrainer Hans Schwarz ein Dutzend Sprungläufer von der fertigen Ochsenschanze Generalprobe springen. Sie fühlten sich wie auf Schnee.
Inzwischen hat der Ski-Club von Neustadt im Schwarzwald beschlossen, die zweite westdeutsche Sommerschanze zu bauen.
Sogar die Skispringer Norwegens, das jedes Jahr früher und reichlicher mit Naturschnee versorgt wird als Deutschland, wollen im Süden ihres Landes eine Sommerschanze errichten, die zum Herbst fertiggestellt sein soll. Die benötigten Kunststoffmatten werden von einer einheimischen Plastikfirma geliefert. Angehörige dieser Firma hielten sich vor kurzem in Deutschland auf, um »gewisse Untersuchungen« anzustellen.
Ganzjahresschanze in Bischofsgrün: Wintersport im Sommer