Trainingsmethoden im Kunstturnen »Mit den Schmerzen musste ich Spagatsprünge machen«
Nur zehn Zentimeter breit ist ein Schwebebalken – ein verdammt schmaler Grat.
Pauline Schäfer besitzt ein ganz besonderes Gefühl dafür, die richtige Balance darauf zu halten. Doch der Weg bis zu dieser Perfektion war lang und hart. Immer wieder treibt ihre Trainerin sie und ihre vier Jahre jüngere Schwester Helene zu Höchstleitungen.
Helene Schäfer / Kunstturnerin, 19 Jahre
»Ich weiß noch ganz genau, dass ich, bevor ich zum Training gegangen bin, schon ganz viel Angst vor dem Training hatte, in die Turnhalle zu gehen. Weil ich ganz genau wusste, sobald ich anfange zu trainieren, sind die Schmerzen wieder da und sind auch so stark, dass ich mich eigentlich gar nicht bewegen konnte, aber trotzdem turnen musste.«
Pauline Schäfer / Kunstturnerin, 23 Jahre
»Wir wurden nicht geschlagen, aber es wurde so viel Druck auf uns ausgeübt, dass wir einfach immer nur funktionieren mussten.«
Und Pauline hat funktioniert: 2017 holt sie eine historische Goldmedaille bei den Kunstturn-Weltmeisterschaften in Montreal. Die erste Frau, die für den Deutschen Turner-Bund Weltmeisterin wird, auf dem Schwebebalken.
Pauline Schäfer / Weltmeisterin von 2017
»Ich will durch meine Geschichte vielen Mädels, die vielleicht dasselbe erlebt haben, ich will ihnen Mut machen. Und auch diese Mädels auffordern, zu sprechen, weil nur wenn man über etwas spricht, kann man das Ganze auch verarbeiten. Und deswegen nutze ich meine Stimme, um das einfach transparent zu machen.«
Pauline wird zur Galionsfigur eines Sports, bei dem Disziplin eine große Rolle spielt. Und in dem in den vergangenen Jahren immer wieder Skandale an die Öffentlichkeit kamen. Die Berichte der Turnerinnen aus der Schweiz, England oder Amerika gleichen sich: Eine Kultur der Angst und der ständigen Demütigung scheint im internationalen Turnsport üblich zu sein. Aus Deutschland gibt es bislang noch keine öffentlichen Statements von aktiven Turnerinnen über negative Erfahrungen während ihrer Karrieren. Bis jetzt.
Pauline ist 15 Jahre alt, als sie nach Chemnitz zum Olympiastützpunkt wechselt. Hier soll sich entscheiden, ob sie es schafft, eine internationale Kunstturnkarriere zu machen oder nicht. Weit weg von der Familie und der Heimat im Saarland, wird die Turnhalle zum Lebensmittelpunkt für den Teenager.
Pauline Schäfer / Weltmeisterin von 2017
»Das Klima war schon am Anfang sehr einschüchternd. Es war eine große Sache, so weit von zu Hause weg. Ein strenger Trainingsplan: morgens in die Schule, dann zum Training, dann wieder in die Schule, dann wieder zum Training. Man hat halt gemerkt, dass es nicht nur um Sport geht, sondern um Leistungssport.«
Im Kunstturnen sind Kraft und Eleganz gleichermaßen gefordert an den für Frauen vier Turngeräten: Stufenbarren, Schwebebalken, Sprung und Boden. Mädchenkörper sind dabei Frauenkörpern gegenüber im Vorteil.
Pauline Schäfer / Kunstturnerin
»Dadurch, dass es im Turnen schon darum geht, so leicht wie möglich und so schön wie möglich auszusehen, war das Gewicht gerade bei mir immer Thema und spielte eine große Rolle. Da kamen dann auch so Sprüche, wenn ich dich sehen, muss ich heulen, kein Wunder, dass es nicht klappt, du bist einfach zu schwer. Damit täglich konfrontiert zu werden ist halt schon schwer, gerade in dem Alter, in der Pubertät. Und führt auch zu keinem guten Selbstwertgefühl. Viele, die nicht den emotionalen und familiären Rückhalt der Familie haben, die gehen einfach unter.«
2013 wechselt auch Paulines jüngere Schwester Helene zum Leistungszentrum nach Chemnitz. Sie ist damals Jahre alt. Die beiden Teenager geben sich in dieser Zeit gegenseitig Halt.
Helene Schäfer / Schülerin
»Ich hatte schon immer mit meinem Körper zu kämpfen, hatte viele Verletzungen. Die schlimmste Verletzung war meine Hüfte. Da hatte ich anderthalb Jahre lang starke Schmerzen. Es konnte anfangs nicht aufgeklärt werden, woher die kommen. Und durch das Training und die Belastung ist das immer schlimmer geworden. Ich war dadurch natürlich nicht mehr so leistungsfähig. Ich wusste damals, dass mein Körper mir eigentlich sagt, dass ich aufhören muss. Aber ich selbst war in der Situation, dass ich mich nicht getraut habe, zu meiner Trainerin zu gehen, weil ich dann ganz genau wusste, dass sie wieder böse oder sauer auf mich ist, weil ich nicht trainieren kann. Das wurde einfach nicht akzeptiert.«
Von 2013 bis 2016 holt Helene acht Medaillen bei deutschen Jungendmeisterschaften. Sie hat großes Potential, doch die Schmerzen hören nicht auf.
Helene Schäfer / Schülerin
»Dann hat mir meine Trainerin vorgeschlagen, Tilidin auszuprobieren, die Schmerztabletten hatte sie damals selbst verschrieben bekommen von ihrem Arzt, weil sie selber eine Hüft-OP hatte. Ich fand das anfangs eine gute Idee, weil ich dachte, es sind auch Schmerzmittel wie Ibuprofen und vielleicht hilft mir das ja. Ohne konnte ich auch keine Wettkämpfe mehr machen. Es ging dann auch so weit, dass ich nicht mehr normal sitzen konnte, ich konnte nicht mehr normal liegen, weil meine Hüfte einfach zu sehr wehgetan hat. Und mit den Schmerzen musste ich halt Spagatsprünge machen, die ganzen Elemente turnen, Wettkämpfe turnen, und das ein Dreivierteljahr lang.«
Tilidin ist ein schmerzstillendes Opioid und kann körperlich abhängig machen. Gegenüber dem SPIEGEL möchte sich die damalige Trainerin von Helene und Pauline nicht äußern. In einem Schreiben ihres Anwalts an den SPIEGEL betont dieser jedoch, dass in den Äußerungen Dritter, eine »Vielzahl von Unwahrheiten und haltlosen Vorwürfen« enthalten seien. Sie ist immer noch im Amt und betreut nach wie vor den Turnnachwuchs in Chemnitz.
Helenes Leidensweg geht weiter, bis ein Arzt 2017 endlich eine Fehlstellung der Hüfte diagnostiziert, die schnell operiert werden muss, um Langzeitschäden zu verhindern. Mittlerweile kann Helene überwiegend schmerzfrei trainieren, turnerisch hat sie keine großen Ziele mehr. Sie macht nächstes Jahr Abitur und wird dann mit dem Kunstturnen aufhören.
Helene Schäfer / Schülerin
»Ich wünsche mir, dass die jungen Frauen und Mädchen nicht das Gleiche durchmachen müssen, was wir damals durchgemacht haben. Ich wünsche mir, dass der menschliche Umgang mit den Sportlerinnen wieder im Vordergrund steht und sie nicht als Objekte gesehen werden oder als nur Hoffnungsträger für die nächste Medaille.«
Die beiden Schwestern trainieren nach wie vor im Leistungszentrum in Chemnitz, allerdings mit einem neuen Trainer. Pauline möchte nächstes Jahr an den Olympischen Spielen in Tokio teilnehmen, bevor auch sie mit dem Turnen aufhört.
Pauline Schäfer / Kunstturnerin
»Mir kann keiner erzählen, dass er das, was in der Halle nebenan passiert, für gut empfindet. Ich wünsche mir mehr Transparenz im Sport. Dass viele Leute darauf aufmerksam gemacht werden, was es bedeutet, diesen Weg zu gehen. Vor allem die Eltern, die ihre Kinder in Stützpunkte schicken und vermeintlich das Gefühl haben, dass sie in guten Händen sind. Dass der Turnsport im Allgemeinen überdacht werden muss.«
Ein Leben ohne Kunstturnen kann sich Pauline Schäfer im Moment noch nicht vorstellen. Für sie geht es jetzt erstmal darum, den Spaß am Training wiederzufinden.