»Ums nackte Überleben gekämpft«
Die Herren vom Deutschen Leichtathletik-Verband (DLV) waren sichtlich irritiert über die Kollegen aus dem Osten. »Wir dachten eigentlich, die seien schon kaputt«, klagte DLV-Vizepräsident Werner von Moltke, doch die DDR habe offenbar alles drangesetzt, »hier noch einmal gut auszusehen«.
Dabei hatten die westlichen Funktionäre alles so schön vorbereitet, um bei den Leichtathletik-Europameisterschaften in der vergangenen Woche in Split die deutsche Leichtathletik Ost auf kaltem Wege zu übernehmen. Sie hatten ein gemeinsames Quartier ausgesucht, in einer gemeinsamen Broschüre, von Mercedes bezahlt, durften die DDR-Athleten ihre Vorfreude auf die anstehende Vereinigung kundtun, und auf gemeinsamen Pressekonferenzen im noblen Adriatic-Club wollten sie dann von einer rosigen Zukunft schwärmen.
Doch unerwartet spielten die kampfstarken Brüder und Schwestern nicht mit. Sie siegten so oft, daß die westdeutschen Läufer, Springer und Werfer wie Dilettanten wirkten. Genüßlich führten die eifrigen Medaillenproduzenten ihren künftigen Kollegen vor, daß bei der Vereinigung der Schwache den Starken nur deshalb schluckt, weil er das Geld hat.
Als der Generalsekretär des Deutschen Verbandes für Leichtathletik (DVfL) der DDR, Heinz Kadow, gefragt wurde, für wen denn nun die Kugelstoßerin Astrid Kumbernuss die Goldmedaille gewonnen habe, zuckte er nur kurz zusammen und erklärte dann lapidar, gesiegt habe »einfach eine Astrid Kumbernuss«. Und die Athleten selbst haben offensichtlich die Zeichen der neuen Zeit erkannt. Kerstin Behrendt, die Dritte im 100-Meter-Sprint, beantwortete die in Split obligatorische Medaillenfrage ganz im Sinn ihres Sponsors: »Für Adidas.«
Trotzig hielt nur Helmut Meyer, der DLV-Präsident, an alten Planvorgaben fest. Der »Leistungs-Meyer« (Athletenspott) sonnte sich ungerührt im Glanze jeder Medaille, gleich ob aus Ost oder West: »Ich rechne sie alle schon mal für die Weltmeisterschaften 1991 in Tokio und Olympia in Barcelona hoch.«
Meyer blieb mit seiner Euphorie allein. Die Stimmung unter dem gemeinsamen Dach im Hotel Zagreb, befand DDR-Aktivensprecher Ulf Timmermann, sei »sehr schwierig«. Der Kugelstoß-Europameister machte bei den erfolglosen DLV-Athleten eine »unwahrscheinlich reservierte Haltung« aus. Jeder kämpfte wohl »um das nackte Überleben«. Wirklich intensive Kontakte, klagten die Ostdeutschen, seien selten gewesen.
Die Verlierer aus dem Westen verweigerten sich den Siegern. Das »alte Feindbild besteht weiter«, sagte Hammerwerfer Heinz Weis. Der DLV-Aktivensprecher behauptete gar, daß die DDR-Kollegen vorher »heiß gemacht worden sind wie immer«.
Zudem mußten die Westdeutschen neben der auffälligen Siegesfreude der Ostdeutschen auch noch Häme aus der Heimat ertragen. So spottete Bild, künftig müßten die »Europameister im Hinterher-Rennen« ja ihre »Vergnügungs-Reisen bei TUI selbst zahlen«, die Deutschen sollten derweil die »goldigen Mädchen« aus Neubrandenburg und Jena »in die Arme nehmen«.
Die DDR-Aktiven haben die Regeln der Marktwirtschaft schnell begriffen. In Split rannten, warfen und sprangen sie auch um Sponsorenverträge und lukrative Kaderplätze im vereinigten Deutschland.
»Heike ist nervös wie nie«, machte sich Erich Drechsler, Trainer und Schwiegervater der Weitsprung-Europameisterin, vor dem Wettkampf Sorgen um seinen Schützling. Schließlich kämpfe sie »hier auch um ihre Zukunft«. Nach ihrer Goldmedaille war Heike Drechsler zufrieden, »weil ja nur Leistung für die Förderung in einer gesamtdeutschen Mannschaft entscheidend ist«. Aber auch die aktuelle Zahlungsbilanz der DDR-Athleten stimmt bereits.
Die Ausrüster Adidas und Puma zahlten, wie auch für Westathleten üblich, 15 000 Mark für jeden Titelgewinn. Der amerikanische Schuhhersteller Nike, der den SC Neubrandenburg mit einer halben Million Mark jährlich unterstützt, honorierte gar jede Goldmedaille von Sprint-Star Katrin Krabbe mit 25 000 Mark.
Die Siegerinnen beschlossen, auch künftig unter sich bleiben zu wollen. Kerstin Behrendt erklärte frank und frei, die DDR-Sprinterinnen hätten die Absicht, in der Staffel »keine DLV-Läuferin« zu akzeptieren.
Derart in die Ecke gestellt, verdächtigten die Deutschen West die Deutschen Ost des gezielten Dopings. Wie schon vor wenigen Wochen die Schwimmer, forderten auch die Leichtathleten strengere Kontrollen für die Kollegen - gerade so, als würden sie nicht dopen. Ulrike Sarvari, die vor der EM noch gesagt hatte, sie habe vor der Vereinigung keine Angst, orakelte nun zweideutig: »Wir wollen erst mal abwarten, wie die Krabbe über den Winter kommt.«
Wie die Athleten trugen auch die Trainer in Split »das letzte Wettrennen« (Frankfurter Allgemeine) aus. Offiziell bezeichnete DDR-Cheftrainer Bernd Schubert den DLV-Plan, von den ehemals 592 Leichtathletiktrainern der DDR 50 zu übernehmen, als »sensationell«.
Im kleinen Kreis aber ging Schubert, dem zum 30. September gekündigt wurde, die neuen Herren hart an. Der DLV habe sich diese Trainer »bereits ausgeguckt«, lasse die Auserwählten aber bewußt noch im ungewissen. Zudem sei ja auch die Finanzierung keineswegs gesichert. DLV-Sportwart Manfred Steinbach sprach in Split gar davon, es könnten wohl nur ein Dutzend als Bundestrainer übernommen werden.
Angesichts dieser Aussichten gebe es in Wirklichkeit keinen Einigungsprozeß, befand Karl Hellmann, der Trainer der Speerwurf-Weltrekordlerin Petra Felke, »alles bei uns wird ziellos zerschlagen«. DDR-Experten würden bei der Planung der deutschen Sport-Zukunft »einfach ausgeschlossen«.
Die Überlegenheit und der Kampf um Mark und Arbeitsplätze störten das viel beschworene »Zusammenwachsen« (Meyer) der Deutschen. So merkte Hellmann, daß Kollegen aus dem Westen in Split »plötzlich nicht mehr so freundlich sind wie früher«. Und Kumbernuss-Trainer Dieter Kollark wies verärgert darauf hin, daß sein Klub SC Neubrandenburg über Jahre hinweg »viel erfolgreicher war als der gesamte DLV«.
Das Konkurrenzdenken paßte zwar nicht in die nach außen demonstrierte Harmonie, den bundesdeutschen Funktionären gefiel der Kampfeswille der Ostdeutschen aber dennoch. Die DDR-Athleten seien »viel härter und nicht so verwöhnt« wie die eigenen Leute, lobte Meyer. Das Wichtigste sei jetzt, erklärte von Moltke gönnerhaft, daß die Sportler ihren Elan bis zu den Olympischen Spielen 1992 durchhielten: »Das ist das beste Sprungbrett für sie.«
Die DLV-Athleten müssen aber schon früher um ihre gutdotierten Positionen in den Klubs fürchten. »60 Prozent der DDR-Spitzensportler«, weiß von Moltke, »wollen nach der EM in den Westen wechseln.«
Angesichts der kommenden Leichtathletik-Herrlichkeit konnten es sich die DLV-Herren in Split sogar erlauben, die eigenen Athleten zu schelten. Entschuldigten die Funktionäre in den vergangenen Jahren selbst die peinlichsten Ausrutscher der DLV-Sportler, um nicht die wenigen Leistungsträger zu vergraulen, so wurden die Aktiven diesmal ziemlich schonungslos kritisiert.
Sportwart Steinbach warf etwa dem Speerwerfer Klaus Tafelmeier vor, »versagt zu haben«, und die ausgeschiedenen 400-Meter-Läuferinnen seien »auf dem Zahnfleisch ins Ziel gestolpert«. Der frühere Zehnkampf-Europameister von Moltke vermißte im DLV-Team den »frechen Athleten« mit einem »gewissen Funkeln in den Augen«.
Da schwante dem letzten DLV-Vorzeigesportler, dem vor der EM zurückgetretenen 400-Meter-Hürdenläufer Harald Schmid, wie wohl die gesamtdeutsche Leichtathletik aussehen wird: »Die Aktiven kommen aus dem Osten, die Funktionäre aus dem Westen.«
Heinz-Jochen Spilker, Bundestrainer aus Hamm, glaubt, daß in diesem Fall die deutsche Einheit die Leichtathletik »um Jahre zurückwirft«. Weil sich die Funktionäre an der zu erwartenden Medaillenflut ergötzen würden, blieben notwendige Reformen im schwerfälligen DLV aus.
Mit einem Versprecher stimmte Steinbach seinem Kritiker unfreiwillig zu. Er habe »wenig Sorge«, meinte der DLV-Sportwart, daß man den DDR-Sport »sofort kaputtkriege«.