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TURNER Unbewältigte Gegenwart

aus DER SPIEGEL 43/1966

Am letzten Sonntag eilte Bundestagspräsident und Kanzler-Kandidat Dr. Eugen Gerstenmaier nach Hamburg, um eine unpolitische, aber urdeutsche Einrichtung zu feiern: den Verein.

Gerstenmaiers Festrede galt dem ältesten Turn- und Sportklub der Welt, der »Hamburger Turnerschaft von 1816« (Kurzfassung: HT 16). Ein dänischer Husarenleutnant, Gotthard Nicolai, und der Berliner Jahn-Jünger Wilhelm Benecke hatten vor 150 Jahren den ersten deutschen Turn- und Sportverein gegründet.

Für drei Mark Monatsbeitrag lernten etwa 50 Jung-Hanseaten fechten, hauen, schwingen und exerzieren. Turnboden war die zuvor von Napoleons Besatzern als Speicher zweckentfremdete Johanniskirche.

Ziel der in ganz Deutschland nach dem Hamburger Vorbild entstehenden Turnvereine war es, »in den Turnern kräftige Verteidiger des Vaterlandes zu erschaffen«, wie einst von Turnvater Jahn verlangt.

Als Reaktion formierten sich in den folgenden Jahrzehnten unpolitische Sportvereine, die sich auf 39 verschiedene Sportarten spezialisierten. Sie pflegen neben den populären Disziplinen Fernschach und Bogenschießen, Radball und Ballonfliegen. Sie organisieren Meisterschaften für Flugzeug- und Schiffsmodelle. Beim »Eisenbahn Turn- und Sportverein Altona« wird heute sogar Yoga-Gymnastik getrieben und alljährlich eine Reistafel für die Mitglieder angerichtet.

»Bayern München«, der größte deutsche Sportverein, zählte im letzten Jahr

6600 Mitglieder. Deutschlands kleinsten Vereinen, etwa dem »Rad- und Motorsportclub Rhön« im hessischen Poppenhausen, gehören 13 Mitglieder an. Vor allem Box-, Fußball- und Ruderklubs sind bis jetzt exklusiv für männliche Mitglieder. Aber auch Frauen oder Lehrer, Studenten, Landwirte oder Eisenbahner, Polizei- und Postbeamte gründeten geschlossene Vereins-Gesellschaften.

Bedeutende Firmen wie Bayer (Leverkusen), Siemens und Salamander (Kornwestheim) schleusten eigene Vereine mit werbewirksamen Emblemen in den regulären Wettkampfverkehr. Evangelische Sportler blieben in »Eichenkreuz« -Klubs, katholische in den Vereinen der »Deutschen Jugendkraft« (DJK) unter sich. Selbst Gehörlose kicken in einheitlichen Klub-Trikots.

In einigen Massen-Vereinen spiegelt sich der soziologische Querschnitt einer Großstadt. Beim Deutschen Fußballmeister »München 1860« etwa ist Coca-Cola-Direktor Adalbert Wetzel Präsident. Sein Duzfreund, Münchens OB und Ehrenmitglied Hans-Jochen Vogel, sitzt bei Bundesliga-Spielen häufig auf der Tribüne. Zu den 5000 Mitgliedern gehört neben turnenden Hausfrauen, Schlagball-spielenden Beamten, Leichtathletik-Lehrlingen und Turnier-tanzenden Angestellten auch CSU-Bundestagsabgeordneter Konstantin Prinz von Bayern. Er leitet die Basketball-Abteilung.

400 000 unbezahlte Trainer treiben den Betrieb von gegenwärtig 35 567 Vereinen an. Der Gegenwert ihrer unentgeltlichen Arbeit für die Klubs: 250 Millionen Mark jährlich - die gesamte Summe, die sie durch Beiträge einnehmen.

Seit den Wirtschaftswunderjahren drängte ein neuer Typ in die Klubs: der Wohlstandssportler. Er scheute-herkömmliche Vereinsmeierei und strapaziöses Training. Er wollte nicht siegen, sondern Fettpolster abbauen und einem Herzinfarkt vorbeugen. Denn die durchschnittliche Arbeitszeit in der Bundesrepublik sank auf 44,1 Wochenstunden. Automation und Motorisierung bewirkten alarmierende Bewegungsarmut. Dagegen nahm die nervliche Anspannung zu. Allein von den Turn- und Sportvereinen erhofften sich die bewegungshungrigen deutschen Sitz-Arbeiter gesundheitsfördernde Strapazen.

So schwoll die Zahl der organisierten Sportler seit 1960 um fast 50 Prozent auf 7 365 310 an. Lediglich die Kirchen haben mehr zahlende Mitglieder. Aber der Ansturm überraschte die meisten Klubs in' einer unbewältigten Gegenwart. Die Kapazität aller Sportanlagen reichte für einen gleichen Massenzuwachs nicht mehr aus. Zudem fehlt den Vereinen das Geld, um Sportlehrer für die Freizeitsportler anzustellen. Der durchschnittliche Vereins-Etat von 5000 bis 7000 Mark entspricht nicht einmal dem Jahresgehalt eines Trainers (der bestbezahlte: Max Merkel vom Fußballmeister München 1860 mit 12 000 Mark monatlich).

Die Mehrzahl der Klubs ist fast ausschließlich auf Beiträge angewiesen. Sie begnügen sich dabei mit drei Mark monatlich oder weniger, wie der Hamburger »Box-Club Sportmann« (zwei Mark). Vor einer Heraufsetzung der Beiträge schrecken sie aus Furcht vor Mitgliederschwund zurück.

»Wenn wir genug bieten«, erklärte dagegen Hans Reip, Vorsitzender der HT 16, »wird auch bereitwillig gezahlt.« Der älteste Turnverein entwickelte die modernsten Methoden für den Freizeitsport. Er erhöhte nicht nur die Beiträge, sondern koppelte sie zugleich an den Renten-Index. Sobald die Renten den erhöhten Lebenshaltungskosten angepaßt wurden, kletterte die Klub-Gebühr (gegenwärtig: sieben Mark). Nur sechs Unzufriedene traten aus. Aber die HT 16 wuchs, auch durch Zeitungsanzeigen, seit 1959 um 75 Prozent auf 3591 Mitglieder. Die Generalkonsuln von Bolivien und Venezuela schlossen sich der Turn-Abteilung an.

Aus den erhöhten Beitrags-Einnahmen (1965: 203 000 Mark) finanzierte Reip insgesamt 30 Angestellte, darunter sogar eine Pianistin. Zwei vollbeschäftigte Vereinsturnlehrer werden wie Volksschullehrer mit etwa 1000 Mark monatlich besoldet.

Um auch die Fußballbräute anzuziehen, führte die HT 16 Gymnastik-Stunden für Ehepaare und Tanzunterricht ein. Schon morgens wird die Halle durch Hausfrauen-Kurse und Kindergruppen ausgenutzt. Für einige freie Stunden im Terminplan vermietete Reip seinen Turnboden mitsamt Sportlehrer an die leitenden Angestellten einer Firma, die unabhängig vom Klub Gesundheitssport treiben wollten. Um einen Hallen-Anbau zu finanzieren, bot der Verein für 1000 Mark lebenslängliche Mitgliedschaft an. Auf das Angebot meldete sich sogar ein rüstiger Freizeit-Gymnast von 80 Jahren.

Ein Plan scheiterte allerdings. Zum Jubiläum hatte die HT 16 für einen Ostsee-Ausflug die »Helgoland« gechartert. Sie liegt inzwischen, als Lazarettschiff im Hafen von Saigon.

Ehepaar-Gymnastik der Hamburger Turnerschaft: Lebenslänglich für 1000 Mark

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