Sportpolitik UNTERTAN UND GRÖSSENWAHN
Treu und klaglos hat Karl-Josef Assenmacher dem großen Sport 15 Jahre lang gedient.
Der Schiedsrichter wirkte bei 42 Fußballänderspielen mit, und noch im Mai wurde ihm die Leitung eines Europapokalfinales wie eine Auszeichnung übertragen.
Wenige Wochen später war der Referee der Buhmann des Fußballs.
Der Weltverband stellte ihn ins Abseits, entzog ihm kurzfristig einen Länderspielauftrag. Englische Zeitungen attackierten ihn mit dort üblichem Panzervokabular, ein Londoner Sonntagsblatt druckte gar seine Telefonnummer. Bis mittags hatten ihm 300 Leser ihre Meinung gesagt, die er, obschon des Englischen kaum kundig, als »weit unter der Gürtellinie« ausmachte.
Dabei hatte Assenmacher beim Qualifikationsspiel Niederlande gegen England nur ein elfmeterreifes Foul übersehen - damit aber den Engländern, so die Fans, den Auftritt bei der Weltmeisterschaft 1994 vermasselt.
Doch die Haßtiraden, vermutet der Elektrotechniker aus Hürth, waren nicht in seinem ausgebliebenen Pfiff begründet: »Das ging nicht gegen den Schiedsrichter Assenmacher, sondern gegen den Deutschen Assenmacher.«
Verlacht, verfolgt, allein gelassen - wie dem wackeren Pfeifenmann ging es im abgelaufenen Jahr vielen deutschen Athleten und Funktionären. In der Klüngelrunde des Weltsports, wo einst der Sportschuster Horst Dassler (Adidas) die Strippen zog, gelten die Deutschen nur mehr als Provinzler, deren natürlicher Lebensraum der Fettnapf ist. Der deutsche Sport geriet international zum Flop des Jahres 1993.
Während die Boombranche weltweit zunehmend von findigen Managern gesteuert wird, schlingern die Verantwortlichen aus der Bundesrepublik zwischen Untertan und Größenwahn, irren die Sportfürsten selbstherrlich durch das Doping- und Stasi-Gewirr des abgewickelten DDR-Sports.
Nach dem Mauerfall fürchteten Athleten aus aller Welt noch, daß sich westliche Wirtschaftskraft und östliches Know-how zur neuen Supermacht des Sports vereinen würden. Die Angst war unbegründet: Die Deutschen erledigten sich selbst.
Argwöhnisch hatte die Konkurrenz die Deutschen beobachtet und aus vielen kleinen, manchmal gar banalen Einzelfällen ein Puzzle zusammengesetzt, das exakt ihr Vorurteil bestätigte. Natürlich mochte es sich niemand mit den potenten Teutonen verderben.
Doch als die Berliner Olympiabewerber um die Spiele 2000 bei der Vergabe in Monte Carlo mit nur neun Stimmen abgestraft wurden, begriffen einige wenige dies zu Recht als Signal für die antideutsche Stimmung in den Weltgremien.
IOC-Mitglied Thomas Bach sah die Notwendigkeit, den »Standort Deutschland« zu diskutieren - eine Debatte, die in Politik und Wirtschaft bereits vor, zumindest aber gleich nach der Vereinigung geführt wurde. Im Sport aber wurde diese Chance vertan, weil weder der Deutsche Sportbund (DSB) noch das Nationale Olympische Komitee (NOK) über politisch kreative Köpfe verfügen. In die Positionen, die einst Willi Weyer (DSB) und Willi Daume (NOK) ausfüllten, sind Verwalter nachgerückt, die schon Diskussionen als Verstoß gegen das Fair play empfinden.
Berauscht von der Aussicht auf Medaillen, kümmerte sich kaum ein Verband um das geheimpolizeiliche Spitzel- und Mogelsystem des einstigen DDR-Sports. Nun wird im beinahe wöchentlichen Rhythmus eine neue Stasi- und Doping-Akte aufgedeckt. Weitsprung-Weltmeisterin Heike Drechsler verstrickte sich in juristische Kleinkriege, und auch als jetzt, wenige Wochen vor den Winterspielen in Lillehammer, der Bobfahrer Wolfgang Hoppe, immerhin Fahnenträger bei den Winterspielen 1992, enttarnt wurde, waren sich die Gremien nicht einig, wie gering denn die Schuld zu bewerten sei.
Allerdings könnten es die Deutschen den anderen eh nicht recht machen; selbst bei sinnvollen Aktionen ernteten sie ob ihrer Gründlichkeit mehr Spott als Anerkennung. Im Doping initiierten sie ein beispielloses Kontrollprogramm mit über 6000 Proben.
Doch in Österreich wurden die deutschen Fahnder vom Wiener Kurier zu Revanchisten abgestempelt. Die häufig kontrollierten deutschen Athleten beklagten sich zunehmend über höhnische Aussagen ihrer ausländischen Kollegen, die weniger Tests zu fürchten haben.
Derart unter Druck, versuchten die Funktionäre den unmöglichen Spagat - und gerieten im Ausland wieder unter Beschuß.
Als die Sprinterin Krabbe zum zweitenmal des Dopings überführt wurde, belegte sie ein Sportgericht »wegen Medikamentenmißbrauchs« nur mit einer kurzen Sperre. Weil die Schwimmerin Astrid Strauß ihren hohen Testosteron-Wert mit übermäßigem Genuß von Erdbeerbowle erklärte, durfte sie sich einem bizarren Laborversuch unterziehen: Unter Aufsicht eines Arztes betrank sich die Magdeburgerin ein zweites Mal. Wenig später kam die Absolution.
»Deutscher Pfusch«, schimpfte der Corriere dello Sport aus Rom, die Londoner Today mutmaßte gar, daß hier »eine Lizenz zum Betrügen« ausgestellt worden sei.
Durften die Deutschen bisher gelassen auf Finanz-, Bestechungs- und Steuerprozesse in aller Welt herunterblicken, so mußten sie erstmals seit dem Bundesligaskandal 1971 wieder eingestehen, daß auch hierzulande die Selbstkontrolle des Sports nicht mehr funktioniert. Im vergangenen Jahr befanden erstmals Strafgerichte über Dopingfälle, neue Prozesse stehen an. Und in Berlin ermittelt die Zentrale Ermittlungsstelle für Regierungs- und Vereinigungskriminalität gegen die Bosse des DDR-Sports. Angesichts der endlosen Skandalflut geht sogar die Bundesregierung vorsichtig auf Distanz. Nach Jahren großzügiger Förderung strich Innenminister Manfred Kanther ("Der Sport muß sich selbst helfen") rigoros die Zuschüsse.
Denn zur Außenwerbung taugt die Leibesübung den Bonnern nicht mehr. Zwar können die Erfolge des strebsamen Formel-1-Aufsteigers Michael Schumacher, der disziplinierten Tennisprofis Steffi Graf und Michael Stich oder des natürlichen Faustkämpfers Henry Maske auch international als Beweis dafür dienen, daß sich im »Freizeitpark Deutschland« (Kohl) Leistung lohnt. Doch diese schönen Nachrichten wurden immer wieder konterkariert - etwa wenn der Geschäftsführer des Deutschen Tennis Bundes, Günter Sanders, in Moskau beim Kaviarschmuggel erwischt wird oder die französische Sportzeitung L'Equipe den Berliner Olympiabewerbern »mangelnden Takt und Arroganz« attestiert.
Auch die konzertierte Aktion von Sport und Wirtschaft wurde beargwöhnt. Daimler-Benz-Chef Edzard Reuter, mit Sportfunktionären zum Kampf um Olympia angetreten, hatte so gut wie keine Chance. Die Herren der Ringe ließen sich zwar, wo immer es ging, mit Limousinen der S-Klasse chauffieren, nahmen auch Barspenden für ihr neues Museum gern an - aber dann schien ihnen das geldige Deutschland, wie der Schweizer Marc Hodler bekannte, doch nicht »gastlich« genug.
Erschrocken müssen die Deutschen registrieren, daß sich Sympathie nicht länger kaufen läßt. Der Tennisvermarkter Ion Tiriac, der in Deutschland Millionen scheffelte, kann sich über seine »zu fleißige und korrekte« Kundschaft nicht mehr freuen. »Immer nur Bismarck«, höhnt der Rumäne, »was soll das?« Der Präsident des Leichtathletik-Weltverbandes, Primo Nebiolo, beschied die Stuttgarter WM-Veranstalter knapp: »Be happy and pay the deficit.«
Kaum hatte das Ausland, überrascht vom La-Ola-Rausch des Stuttgarter Publikums, eine neue Leichtigkeit des Deutschseins entdeckt, schockte ein Gerichtsurteil die Athleten und Medien. Hatte schon das Attentat des verirrten Thüringer Fanatikers Günter Parche auf die Weltranglistenerste Monica Seles für antideutsche Stimmung gesorgt, so wurde das Strafmaß (zwei Jahre auf Bewährung) undifferenziert zum Komplott von Justiz und Sport zu Lasten einer Ausländerin erklärt. »Das schlägt auf den deutschen Sport zurück«, glaubt etwa die französische Spielerin Nathalie Tauziat, Ressentiments gegen Deutsche könnten da »nicht ausbleiben«.
Die Abneigung wuchs, als zwei amerikanische Rodler im thüringischen Oberhof von Rechtsradikalen verprügelt wurden. Besorgt bewertete das Nationale Olympische Komitee der USA Starts in Deutschland als »Risiko«; Ron Rossi, Chef des US-Rodelverbandes, ordnete »Sicherheitsmaßnahmen wie während des Golfkriegs« an.
Das Negativbild könnte durch die sportlichen Erfolge gemildert werden. Doch fehlt auch den meisten deutschen Sportstars die Bereitschaft, sich mit den gesellschaftlichen Vorgängen im Land auseinanderzusetzen. Versuche, über den Rand des Stadions hinauszublicken, endeten zu oft in Stammtisch-Gedankengut der militanten Rechten.
Tennisspieler Michael Stich räsonierte über »plausible Gründe« von Rechtsradikalen; Lothar Matthäus, Kapitän der Fußball-Nationalmannschaft und Aushängeschild der Aktion »Mein Freund ist Ausländer«, beleidigte erst einen Holländer ("Du bist wohl vergessen worden vom Adolf"), dann seinen Teamkollegen Adolfo Valencia ("Unser Schwarzer hat so'n Langen").
Plump, rücksichtslos und selbstgerecht - da darf sich keiner wundern, wenn sich inzwischen sogar der Nimbus vom zuverlässigen und disziplinierten Malocher ins Gegenteil verkehrt. Die Ernsthaftigkeit, mit der sich die deutschen Vorzeigeathleten ihre Erfolge erarbeiten und die einst die italienischen Fußballeinkäufer in Scharen in Bundesliga-Stadien lockte, sorgt gar für unverblümte Antipathie.
Französische Medien mokierten sich über Steffi Graf, die beim Pariser Grand-Slam-Turnier brummig über die Anlage schlich.
Beim Masters in Augusta wurde Golfer Bernhard Langer vom US-Fernsehen gar bei der Übertragung möglichst ausgeblendet. »Niemand will Langer sehen«, urteilte der CBS-Kommentator über den Sieger des berühmtesten Turniers der Welt. »Langweilig, ohne Ausstrahlung, berechnend wie ein Roboter«, befanden US-Zeitungen.
So mußten am Ende alle eine Feststellung des US-Serienhelden Al Bundy akzeptieren: »Deutschland hat ein Problem: Es liegt in Deutschland und wird von Deutschen bewohnt.« Y