Urlaub bis Olympia
Auf den Weltmeeren zählen die Deutschen längst nicht mehr zu den Großen. In den Schwimmbecken der Welt sind sie wieder wer.
Innerhalb einer Woche beschlossen die Bundesschwimmer ihr Wintertraining mit einem Europarekord und vier Weltbestleistungen. Brustschwimmer Walter Kusch, 21, Kraulsprinter Peter Nocke, 20, dazu Kraul-, Rücken- und Delphinschwimmer Klaus Steinbach, 22, reihten sich unter die Favoriten für Montreal ein. Wenigstens zwei weitere Schwimmer und die Staffeln sind außerdem für Medaillen gut.
»Ich gehe auf keinen Fall nach USA«, wehrte Kusch ab, obwohl die Klubs in Kalifornien noch immer als Medaillenschmieden gelten. Spät, aber für Montreal nicht zu spät, haben auch die Bundesdeutschen nach ihren gesellschaftlichen Möglichkeiten ein Netz aus sorgfältiger Planung und ausgewogenen Fördermaßnahmen geknüpft. Kusch: »Ich habe Zeit und Möglichkeit, soviel und so gut zu trainieren wie noch nie.«
Allerdings erfaßt das bundesdeutsche Förderband, anders als in der DDR oder in den USA, bislang nur einige Talente. In der DDR verfügt jeder Bezirk über eine Kinder- und Jugendsportschule (KJS). Der Deutsche Schwimm-Verband (DSV) konnte erst ein Internat in Saarbrücken einrichten. Dort koordiniert Bundestrainer Horst Planert für ungefähr 15 schulpflichtige Schwimm-Hoffnungen aus dem ganzen Bundesgebiet Unterricht und Leistungstraining.
Auch Rekordler Steinbach gedieh im Saarbrücker Schwimm-Kindergarten zum Rekordier. Als er keine gleichwertigen Trainingspartner mehr fand, wechselte der Abiturient zum wichtigsten Schwimmerzentrum nach Bonn. Dort trainiert auch Kusch.
Für etwa zwei Millionen Mark erhielten die Schwimmsportfreunde Bonn nach dem Muster von Leipzig oder Los Angeles eine Halle mit rekordfähigem 50-Meter-Becken ausschließlich für Leistungsschwimmer. Der Klub pachtete es von der Stadt auf zwölf Jahre für die symbolische Summe von einer Mark.
Denn in öffentlichen Hallen ist ein Tagespensum bis zu 15 Kilometer pro Schwimmer nicht zu bewältigen. Stars wie Kusch legten seit September 900 Kilometer zurück -- die Entfernung von Frankfurt bis Rom. Die Bonner trainieren, so Cheftrainer Orjan Madsen, 30, »die gleiche Menge« wie Amerikaner, »nur härter und intensiver
Der frühere norwegische Olympiateilnehmer diskutiert Training und Taktik mit seinen Schülern und fördert Leistung »nicht auf Kosten der Kameradschaft«. Seine Schwimmer dürfen ihre berufliche Ausbildung nicht vernachlässigen. Steinbach arbeitet etwa als Praktikant halbtags in einem Krankenhaus; er wartet auf einen Studienplatz für Medizin. Madsen betreut 11 von 31 bundesdeutschen Montreal-Anwärtern. So stacheln sich die Stars wie in Amerika schon im Training gegenseitig an.
Ähnlich günstige Bedingungen findet Olympia-Kandidat und Bundeswehrsoldat Nocke, der von den Europameisterschaften 1974 aus Wien fünf Goldmedaillen mitbrachte, in Wuppertal vor. Seit Sport und Bundeswehr »im Gleichschritt marschieren« (Sportbund-Präsident Willi Weyer), haben auch Bundesschwimmer die Amateurklippe umrundet. Mit Sold und Sporthilfe können sie bis zu 1000 Mark monatliches Betriebskapital zusammenbringen.
Auch Kusch und Nocke gehören der Warendorfer Sportkompanie an. Aber sie haben, gleichsam Urlaub bis Olympia und trainieren bei ihren Klubs. Steinbach lebt mit vier Trainingsgenossen in einer Schwimmer-Kommune. Der Klub leistet eine Mietbeihilfe. Ein Fleischer spendiert die nötigen Steaks.
Ihre Wettkampfplanung haben die Schwimmer sorgfältig abgestimmt. Denn nichts ist schwieriger, als die angestrebte Höchstleistung auf einen bestimmten Tag, den Olympia-Termin, zu programmieren. Dazu dienen ausgeklügelte Wettkampf-Terminierung und ein feinabgestuftes Training. Im Winter änderte etwa Nocke seinen Armzug mit dem Ziel, noch rationeller zu kraulen.
Als Härtetest dienten zum Abschluß des Winter-Abschnittes drei Wettkämpfe innerhalb einer Woche. Steinbach startete dabei allein 18mal und kraulte die 100 Meter als erster in weniger als 50 Sekunden (49,78 Sekunden). Nocke überwand erstmals die 1:50-Minuten-Barriere auf der 200-Meter-Distanz (1:48,80 Sekunden).
Bis Montreal werden die täglichen Trainingskilometer vermindert, dafür wird das Tempo der einzelnen Trainingsintervalle gesteigert. Steinbach: »Weniger Quantität,. mehr Qualität.«
Die Bundesschwimmer verzichteten sogar auf eine Japan-Tournee, weil sie nicht in die Montreal-Planung paßte. Statt dessen bestreiten sie zur Formüberprüfung im April einen Sechsländerkampf in Minsk und Anfang Juni ihre internen Qualifikations-Wettkämpfe, an die sich das gemeinsame Abschlußtraining anschließt.
Vor der Reise nach Montreal muß jeder die Norm erbringen: eine Leistung, die mindestens der sechsbesten bei den Weltmeisterschaften 1975 erzielten Zeit entspricht. Trotzdem rechnete der Bundesausschuß für Leistungssport (BAL) für die Bundesschwimmer fünf bis sieben Olympia-Medaillen und 19 Plätze in den Endkämpfen hoch.
Eine Unbekannte ist allerdings nicht auszurechnen: Ob das Olympiabecken in Montreal rechtzeitig schwimmfertig wird, ist ungewiß.