Verbände Verrat und Lüge
Die Wahl war sorgsam vorbereitet: Mit vereinten Kräften arbeiteten die hohen Würdenträger des deutschen Sports am tadellosen Leumund ihres Kandidaten. Manfred von Richthofen, Vizepräsident des Deutschen Sportbundes (DSB), lobte Martin Kilian, 63, als »einen meiner besten Verhandlungspartner«. Klaus Kotter, der Präsident des Bob- und Schlittensportverbandes, warf eine »Ehrenerklärung« für den ehemaligen DDR-Funktionär in die Debatte. DSB-Präsident Hans Hansen berichtete gar, daß er in Kilians Heimat persönlich recherchiert habe.
Und als der gepriesene Saubermann, bis zum Mai 1990 Bürgermeister von Wernigerode, vor einem DSB-Gremium auf Nachfrage beteuerte, »niemanden politisch verfolgt« und »nie gegen die Menschlichkeit verstoßen« zu haben, war die Wahl nur noch Formsache: Mit 393 Ja-Stimmen wurde der letzte Präsident des Deutschen Turn- und Sportbundes der DDR (DTSB) auf dem DSB-Vereinigungstag im Dezember zum Stellvertreter Hansens gewählt.
Acht Monate später erweisen sich alle Reden von Ehre und Unschuld als haltlos. Der Mann mit der angeblich weißen Weste galt als »SED-Zögling« (Wernigeröder Zeitung) und strammer Vertreter des Regimes. 28 Jahre diente er seiner Heimatstadt als Bürgermeister, letztmalig war er 1989 mit offiziell 99,01 Prozent der Stimmen bestätigt worden.
Dabei ist Kilian nur einer von vielen ehemaligen DDR-Sportführern, die im vereinten Deutschland auf Funktionärsposten untergekommen sind und nun von ihrer Vergangenheit eingeholt werden. Akten belegen, daß Kilian in seiner Funktion als »Vorsitzender des Rates der Stadt Wernigerode« sehr wohl Bürger aus politischen Gründen drangsalierte. Der Fall des Elektronikfachmannes Peter Kretschmer dokumentiert, wie der sportbegeisterte Bürgermeister mit politisch unliebsamen Untergebenen umging.
Kretschmer wurde 1970 als Verwaltungsleiter an der Erweiterten Oberschule in Wernigerode angestellt. Seine Arbeit, vornehmlich die Wartung der technischen Geräte, wurde allgemein geschätzt; Kretschmer sei, so ein Lehrer später vor Gericht, ein »ausgezeichneter Fachmann«.
Die politische Gesinnung des katholisch erzogenen Sohns eines Kleinunternehmers gefiel seinen Vorgesetzten weniger gut. Der Techniker lasse sich »bei seinem gesamten Handeln« nicht vom »Standpunkt der Arbeiterklasse leiten« und zweifle oft die Beschlüsse der Partei an. Diese Mißbilligung der SED-Linie führe auch zu »erheblichen Mängeln in Erziehungsfragen im Elternhaus«. Als Kretschmers damals 15jähriger Sohn Michael angeblich in der Schule ein Bild des SED-Generalsekretärs Honecker bespuckt hatte, schaltete sich Bürgermeister Kilian ein: Auf sein Betreiben wurde Kretschmer entlassen.
Gegenüber Kretschmers Vater, den Kilian persönlich kannte, beteuerte das Stadtoberhaupt zwar, sich für die Rücknahme der Kündigung einzusetzen. Gleichzeitig forcierte Kilian aber vor dem Kreisgericht Wernigerode (Aktenzeichen KA 2/74), bei dem Kretschmer gegen die Entlassung geklagt hatte, den Rausschmiß des Schulangestellten.
Das »Urteil im Namen des Volkes« vom 21. Januar 1974 bedeutete für Kretschmer praktisch ein Berufsverbot. Die Kammer für Arbeitsrechtssachen bemängelte das Fehlen einer »ausgeprägten sozialistischen Denk- und Verhaltensweise«. Kretschmer sei nicht von der »Sieghaftigkeit des Sozialismus« überzeugt.
Kretschmer, der fortan in der DDR »keine zumutbare Anstellung« mehr fand, stellte Ausreiseanträge - zunächst an den Rat des Kreises, später auch an höhere Stellen. Erst seinem neunten Antrag wurde, nach zweijähriger Wartezeit, stattgegeben.
Auch nach seiner Übersiedelung in die Bundesrepublik blieb der politisch Verfolgte (Flüchtlingsausweis C; Nr. 3536/321) von der Willkür der örtlichen Organe nicht verschont. Als er 1982 zur Beerdigung seiner Mutter nach Wernigerode reisen wollte, verweigerten ihm SED-Funktionäre die Einreise. Selbst ein Vermittlungsversuch des SPD-Präsiden Hans-Jochen Vogel blieb erfolglos.
Kretschmer, der heute an der Universität Göttingen arbeitet, hätte seinen Fall auf sich beruhen lassen, wenn er nicht in der Zeitung von Kilians geschmeidiger Wende zum West-Funktionär ("Ich bin parteilos") gelesen hätte. Daß »ausgerechnet dieser Mann auch im vereinten Deutschland Karriere macht«, veranlaßte Kretschmer zum Handeln: Er will seinen Peiniger auf Schadenersatz verklagen.
Kilian sieht das alles gelassen, wie andere Kaderfunktionäre weiß er sich von der gesamtdeutschen Funktionärssolidarität geschützt. Denn die Verdrängung der politischen Vergangenheit von Führungskräften hat im deutschen Sport Tradition. Bereits nach dem Zweiten Weltkrieg konvertierten hohe Sportfunktionäre der Nazi-Herrschaft wie Carl Diem oder Guido von Mengden zu prominenten Repräsentanten des neuen demokratischen Sports.
Damals wie heute sah vor allem Deutschlands oberster Sportfunktionär Willi Daume großmütig über die biographischen Schwachstellen seiner Kollegen hinweg. So betrieb Daume die Kür von Joachim Weiskopf, 63, zum Vizepräsidenten des Nationalen Olympischen Komitees (NOK) - obwohl bekannt war, daß der langjährige Präsident des DDR-Kanuverbandes die Verfolgung namhafter Sportler wegen ihrer Westkontakte geduldet hatte.
Die öffentliche Kritik an dieser Personalentscheidung ließ Daume ungerührt. Wenig später bestellte er noch Wolfgang Gitter, 59, zum Leiter der NOK-Außenstelle Berlin. Der Träger _(* In der Fußgängerzone von Wernigerode. ) der Verdienstmedaille der DDR hatte jahrelang als NOK-Generalsekretär gegen den Westen polemisiert.
Unverhohlen werden selbst die prominentesten Vertreter des früheren Kommandosports in Daumes olympische Familie aufgenommen. So wurde Volker Kluge, 46, Sportchef der ehemaligen FDJ-Zeitung Junge Welt, als Persönliches Mitglied ins NOK berufen. Kluge vertrat als Pressechef des ostdeutschen Olympia-Komitees seit 1983 die antiwestliche Sportideologie der DDR. Noch 1989 kommentierte er das Doping-Geständnis des geflohenen Skispringers Hans-Georg Aschenbach: »Erst der Verrat und nun die Lüge.«
Auch Kugelstoß-Olympiasiegerin Margitta Gummel, 50, fand Einlaß in den feinen Zirkel des NOK-Präsidiums. Die scharfe Kaderathletin verstand sich selbst als herausragende Vertreterin der sozialistischen Sportbewegung. In früherer Zeit klagte die Parteischülerin regelmäßig den Klassengegner an, der durch »übelste Störversuche, Anfeindungen und persönliche Verunglimpfungen« die Entwicklung der DDR »aufzuhalten und uns zu diskriminieren« versuche.
Der lockere Umgang mit der Vergangenheit ist aber kein Privileg von DSB und NOK, auch die Fachverbände nehmen es nicht allzu genau. So läßt sich der Deutsche Fußball-Bund international vom ehemaligen Präsidenten des DDR-Verbandes Günter Schneider vertreten. Wegen mehrerer Delikte, unter anderem Amtsmißbrauch und Erpressung, ermittelt das Dezernat für Verbrechensbekämpfung der Berliner Polizei (Aktenzeichen VBSU /3,358/91) gegen den Parteigenossen.
Die Trennung von den belasteten Funktionären fällt den westlichen Machtmenschen nicht nur aus Kameraderie schwer, die Gewendeten besitzen ein wertvolles Unterpfand. Wegen der dominierenden Rolle der DDR-Sportler haben die alten Kämpen in vielen Präsidien, Gremien und Ausschüssen Sitz und Stimme. Mit den Konvertiten aus dem Osten mehrt sich der Einfluß deutscher Funktionäre auf internationaler Ebene.
Deshalb vermag auch die Verwicklung in schlimmste Dopingauswüchse die zweite Karriere kaum zu stören: *___Als Persönliches Mitglied sitzt mit Dr. Claus ____Clausnitzer, 50, einer der profundesten Kenner und ____Akteure des DDR-Dopingsystems im NOK. Der ehemalige ____Leiter des Kontroll-Labors in Kreischa nahm nicht nur ____die »Ausreisekontrollen« für gedopte Athleten vor. Als ____Wissenschaftler war er auch an der Entwicklung neuer ____Substanzen und verfeinerter Vertuschungsverfahren ____beteiligt. *___Die Leichtathleten kürten Georg Wieczisk, 69, gar zu ____ihrem Ehrenpräsidenten. Der ehemalige Präsident des ____DDR-Verbandes war seit 1972 als Auftraggeber und ____Empfänger verantwortlich für wissenschaftliche ____Doping-Erfolgsberichte. *___Zum Vizepräsidenten, zuständig für Leistungssport, ____wählten die Kanuten Helmut Zänsler, den letzten ____Kanu-Präsidenten der DDR. Die Ost-Kanuten zählten zu ____den schlimmsten Dopingsündern. Zur »Verbandskonzeption« ____gehörte die Verabreichung von Anabolika, sogar ____16jährige Mädchen mußten die Droge schlucken.
Daß den westlichen Sportführern die politische Vergangenheit und die Dopingmentalität vieler ihrer östlichen Kollegen bekannt ist, steht außer Frage. So berichtete Bobweltmeister Steffen Grummt öffentlich vom Anabolikakonsum im Bob- und Schlittenverband, dem Kilian jahrelang vorstand. Rodel-Olympiasieger Reinhard Bredow beschuldigte den Wendehals, früher Sportler politisch gemaßregelt zu haben. Zu Konsequenzen führten diese Vorwürfe ebensowenig wie der Fall Kretschmer.
Schon im Dezember vergangenen Jahres informierte Kretschmer telefonisch Hansen und von Richthofen über Kilians Wirken in Wernigerode. Beide teilten Kretschmer schriftlich mit, man wolle den Fall bei Gelegenheit »im Präsidium erörtern«.
Kretschmers Angebot, »persönlich und mit Unterlagen« bei den Sportführern vorstellig zu werden, nahmen von Richthofen und Hansen nicht in Anspruch. Auf die vereinbarte Antwort wartet Kretschmer seit Januar. o
* In der Fußgängerzone von Wernigerode.