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Artikel 66 / 82

»Versteht er, was mit ihm passiert?«

SPIEGEL-Gespräch mit Masters-Turniersieger Ivan Lendl über Boris Becker und die internationale Tennisszene *
aus DER SPIEGEL 5/1986

SPIEGEL: Herr Lendl, Boris Becker würde so gern nicht nur Deutschlands neuer Nationalheld sein, sondern auch die Nummer eins der Tenniswelt. Leider versperren Sie ihm den Weg.

LENDL: Warum leider?

SPIEGEL: Leider, aus seiner Sicht und aus der seiner Fans, die ihn unbedingt als Größten sehen wollen.

LENDL: Ich hoffe, sie werden weiter leiden müssen. Wenn ich ihn für den Rest meiner Karriere schlagen kann, werde ich das auch tun. Nicht daß ich ihn nicht mag, aber ich verliere einfach nicht gern.

SPIEGEL: In vier Turnieren haben Sie jedesmal gegen Becker gewonnen, was fehlt noch in seinem Spiel?

LENDL: Nun, er ist erst 18 und gerade groß rausgekommen. Ich bin auch noch nicht alt, aber ich bin schon fast 26, im Vergleich mit Becker ein alter Mann. Ich habe mehr Erfahrung als er.

SPIEGEL: Welche der Becker-Schläge bedürften noch der Feinabstimmung?

LENDL: Es sind nicht eigentlich seine Schläge, es ist seine Beinarbeit. Er ist ein bißchen langsam. Deswegen verpatzt er Schläge, von denen man eigentlich denkt, die sollte er hinkriegen. Daher ist er auch gezwungen, seine Hechtsprünge am Netz zu machen. Er ist einfach nicht beweglich genug, und das muß er gelegentlich mit diesen Hechtsprüngen kompensieren. Eine andere Schwäche: Er ist groß. Das war auch mein Problem. Wenn man ihm einen Ball sehr tief vor die Beine spielt, muß er sich weit nach unten beugen. Und das ist schwer, aber er ist ja noch jung, und ich bin sicher, daß er daran noch arbeiten wird.

SPIEGEL: John McEnroe gilt als einer der talentiertesten Tennisspieler aller Zeiten. Wie würden Sie Becker mit ihm vergleichen?

LENDL: In meinem ganzen Tennisleben habe ich nie einen so begabten Spieler wie McEnroe gesehen.

SPIEGEL: Begabter als Becker?

LENDL: Ganz ohne Frage. McEnroe muß bei weitem nicht so hart trainieren wie ich, er hat das Naturtalent. Alles, was ich heute auf dem Platz beherrsche, habe ich mir hart erarbeiten müssen. Bei mir kommt nichts von selbst. Natürlich habe ich auch Talent, aber ich glaube sogar, Becker ist ein bißchen begabter als ich. Er ist in der Lage, Bälle zu schlagen, die ich in seinem Alter nicht draufhatte. Außerdem ist er in seiner körperlichen Entwicklung wesentlich weiter, als ich es mit 18 war. Ich war wirklich ein Strich.

SPIEGEL: Viele Deutsche hofften insgeheim oder waren sogar davon überzeugt, daß Becker im Finale des New Yorker Masters-Turniers gegen Sie gewinnen und Sie als Nummer eins entthronen könnte.

LENDL: Ich bin sicher, daß alle so dachten.

SPIEGEL: Beckers Trainer, Günter Bosch, erklärte die Niederlage seines Schützlings nicht allein mit Ihrer spielerischen Überlegenheit, sondern auch mit _(Mit Redakteuren Helmut Sorge und Teja ) _(Fiedler im Haus eines Geschäftsfreundes ) _(in Laguna Beach (Kalifornien). )

Psychologie. Becker habe sich von Ihnen einschüchtern lassen - und zwar mit Tricks. Er meinte zum Beispiel, Ihre angebliche Grippe sei gar keine Krankheit gewesen, sondern ein Manöver, mit dem Sie glauben machen wollten, schwächer zu sein, als Sie wirklich waren.

LENDL: Ich weiß, nach dem Spiel wurde ich gefragt, warum ich mir zwischen den Punkten mehr Zeit gelassen hätte als üblich. Ich erklärte, daß ich von Montag bis Donnerstag im Bett gelegen hätte und nur für die Spiele und das Training aufgestanden sei. Außerdem befürchtete ich, daß ich einem langen Match körperlich nicht gewachsen sein könnte. Auch wenn mir Bosch das nicht glaubt, so war es. Wirklich, nach dem Spiel fühlte ich mich ganz elend und ging schnurstracks wieder ins Bett.

SPIEGEL: Sie sagen, Sie waren krank. Der Becker-Clan meint, Sie wollten Boris aus dem Rhythmus bringen.

LENDL: Nein, nein. Ich habe mir mehr Zeit als sonst gelassen, einfach, weil ich Kraft sparen wollte. Aber ich lasse mir auch sonst Zeit. Ich brauche das für die Konzentration. Aber Becker ist gewöhnt, ohne Verzögerung zu spielen. Ich hatte genau das gleiche Problem, als ich neu im Profitennis war. Jedesmal, wenn ich gegen McEnroe und noch mehr, wenn ich gegen Connors spielte, mußte ich warten und warten, bis ich, aufschlagen oder ihr Service returnieren konnte. Sie nahmen sich immer viel Zeit, und ich verlor meine Konzentration. Boris muß das auch lernen - genauso wie ich.

SPIEGEL: Bosch klagte nach dem New Yorker Match: »Boris hat die gleichen Mätzchen wie Lendl gemacht, das war falsch. Man muß einfach etwas erfinden, um seinerseits den Gegner zu irritieren.« Kann ein so junger, unerfahrener Spieler wie Becker einen so ausgekochten Profi wie Sie wirklich aus der Ruhe bringen?

LENDL: Das glaube ich nicht. Jemand, der seit acht Jahren große Turniere spielt und viel Erfahrung hat, ist schwer zu irritieren. Was Connors und McEnroe nicht schaffen - und die haben Übung darin -, das wird für Boris auch ziemlich schwierig sein.

SPIEGEL: Womit könnte man Sie denn aus der Ruhe bringen?

LENDL: Ich bilde mir ein, mich kann man überhaupt nicht aus der Ruhe bringen. Natürlich regt man sich manchmal schon auf. Ich selbst habe nie versucht, einen Gegner absichtlich aus der Fassung zu bringen - denn dann ist man im Kopf zu sehr damit beschäftigt, und wenn es nicht klappt, verliert man selbst die Fassung. Ich versuche, mich auf mein Spiel zu konzentrieren.

SPIEGEL: Wenn der Gegner aber dauernd seine Schnürsenkel zubindet oder mit den Linienrichtern herumstreitet oder alle fünf Minuten seinen Schläger wechselt, nervt Sie das nicht?

LENDL: Dann verschwendet er all seine Energie darauf, sich Ablenkungsmanöver einfallen zu lassen, und das ist für sein Spiel nicht gut.

SPIEGEL: Trotzdem wurden Sie offensichtlich im New Yorker Finale einmal durch die Handzeichen gestört mit denen Bosch und Tiriac versuchten Becker zu helfen. Haben Sie sich darüber beim Schiedsrichter beklagt?

LENDL: Das hat mich nicht irritiert. Ich habe nicht einmal wahrgenommen, daß sie das versuchten. Das hat man mir erst nach dem Spiel gesagt.

SPIEGEL: Hätten Sie es gern, wenn Ihr Coach so etwas machen würde?

LENDL: Eigentlich nicht. Ich glaube, ein Trainer kann während eines Matchs nur dadurch Hilfe leisten, daß er einfach dasitzt und moralische Unterstützung gibt. Er kann sagen: »Los, Junge« oder so was ähnliches. Nur der Spieler selbst hat das Gefühl dafür, was im Augenblick auf dem Platz passiert. Wer draußen sitzt, hat das nicht, auch wenn er der beste Trainer der Welt ist. Der Spieler muß entscheiden, was er macht.

SPIEGEL: Als Sie im zweiten Satz beim Masters-Finale mit 2:5 hinten lagen, sind Sie da auch nicht nervös geworden?

LENDL: Nein, überhaupt nicht. Ich war nur ein bißchen böse auf mich, weil dieser Rückstand völlig unnötig war. Ich machte ganz dumme Fehler.

SPIEGEL: Sprechen Sie in solchen Situationen mit sich selbst, etwa: »Von diesem Kind lasse ich mich doch nicht wegputzen, vor allem nicht in diesem Finale.«

LENDL: Ich spreche immer mit mir selbst, das macht jeder. Wenn das Gehirn arbeitet, ist das schon ein Selbstgespräch.

SPIEGEL: Becker konnte den Satz schließlich nicht gewinnen und verlor zunehmend an Selbstsicherheit. Manchmal schien er sogar den Tränen nahe. Hatten Sie da Mitleid mit ihm?

LENDL: Nein, keineswegs. Ich habe diesmal gar nicht gemerkt, daß er fast am Heulen war, aber ich weiß, daß er dazu neigt, in Tränen auszubrechen. Ich habe das bei seinen Niederlagen gegen mich in Tokio und London gesehen. In solchen Augenblicken sagte ich mir: »O Gott, gleich fängt er an zu weinen.« Aber ich denke, das liegt an seiner Jugend und weil er mit aller Macht gewinnen will. Als ich ein Teenager war, habe ich mich über meine Niederlagen auch so gegrämt, daß ich auch fast weinte. Ich hatte mich so angestrengt, und es war alles umsonst, das ist sehr frustrierend. Heute verberge ich meine Gefühle, Becker zeigt sie, aber nur weil er seine Emotionen zeigt, lasse ich mich nicht davon abhalten, ihn zu besiegen.

SPIEGEL: Ihr unbedingter Wille zum Sieg bleibt erhalten?

LENDL: Ganz sicher, sogar wenn meine Mutter oder Großmutter auf der anderen Seite des Netzes stehen würde, würde ich weiter auf Sieg spielen.

SPIEGEL: Glauben Sie, daß Becker mit dem Druck fertig wird, der auf ihm lastet?

LENDL. Er ist 18 Jahre alt und mit einem Schlag, in wenigen Monaten, unter die ersten der Weltrangliste vorgedrungen. Ich habe fünf, nein, vielleicht drei oder vier Jahre gebraucht, um unter die besten drei zu kommen. Ich bin Schritt für Schritt besser geworden - er ist einfach in diesen Kreis eingebrochen ohne jede Vorbereitung darauf. Manchmal frage ich mich: Versteht dieser achtzehnjährige Junge, dieser Mann oder dieses Kind - wie immer Sie Becker nennen wollen -, was jetzt mit ihm und seinem Leben passiert?

Ich weiß, ich hätte das mit 18 nicht verarbeiten können. Aber, das sei noch einmal gesagt, er ist körperlich soviel weiter als ich damals, daß vielleicht seine Entwicklung überhaupt viel schneller vor sich ging als meine. Wenn ich ihm einen Rat geben würde, dann den: Genieße dein Tennisleben so intensiv, wie du kannst.

SPIEGEL: John McEnroe macht im Augenblick eine tiefe Krise durch. Von seinen letzten sechs Turnieren gewann er nur eins, jetzt will er zwei Monate Pause machen. Haben Sie Mitgefühl für ihn oder verspüren Sie eine gewisse Schadenfreude? Er hat Sie ja oft besiegt, und dicke Freunde waren Sie nie.

LENDL: Das ist sehr schwer zu beantworten - wirklich sehr kompliziert.

SPIEGEL: Versuchen Sie''s mal.

LENDL: Ich werde es probieren. Er war Nummer eins, jetzt ist er Nummer zwei. Das bedeutet für ihn eine große Belastung. Kann er wieder an die Spitze kommen, hat er den Willen, sich zu quälen? Mir scheint, er hat sich noch nicht entschieden, ob er diese Anstrengung auf sich nehmen will.

SPIEGEL: Würden Sie es begrüßen, wenn er es täte?

LENDL: Ich hoffe, daß ich ihn auch noch schlagen kann, wenn er sich zu einem Comeback entschließen sollte.

SPIEGEL: Die Frage, ob Sie für McEnroe Mitgefühl haben, ist noch nicht beantwortet.

LENDL: Auch ich hatte mal Probleme und wollte schon mit dem Tennisspielen aufhören. Doch das Schlimmste in so einer Situation ist Selbstmitleid. Es hilft auch nicht weiter, wenn dich andere bemitleiden. Man muß selbst aus seiner Misere herausfinden. Das gilt auch für einen John McEnroe.

SPIEGEL: Wie sind Sie damals mit Ihrer Frustration fertig geworden?

LENDL: Ivan, sagte ich, tu'' was ...

SPIEGEL: ... und Ivan ...

LENDL: ... tat was. Ich habe, so glaube ich wenigstens, ein neues Tennisleben begonnen, als ich vor eineinhalb Jahren meine Diät anfing. Mir ging es bald viel besser, und auch Tennis machte mir wieder Spaß. Ich handelte. Ergebnis: Heute fühle ich mich so gut, daß ich spielen will, bis ich 60 bin.

SPIEGEL: Was ist das Geheimnis Ihrer Diät?

LENDL: Diät heißt für mich nicht Gewichtsverlust. Meine Diät steigert in erster Linie die Ausdauer, damit ich auf dem Platz länger durchhalten kann. Abnehmen tue ich nur nebenbei. Mein Speiseplan besteht aus klaren Suppen häufig Nudeln mit Tomatensaucen, dann Hähnchen, Gemüse, Obst, Fisch und jede Menge Wasser.

SPIEGEL: Aber Sie essen kein Rind- oder Schweinefleisch?

LENDL: Nicht ein einziges Mal seit eineinhalb Jahren. Manchmal esse ich Kalbfleisch, aber nicht einmal das schmeckt mir mehr.

SPIEGEL: Mit Diät allein jedoch haben Sie Ihr Tennis nicht verbessert.

LENDL: Sie war aber die Grundlage. Denn ich konnte auf einmal härter arbeiten, weil ich überhaupt nicht mehr müde wurde. Plötzlich ging es aufwärts mit mir. Meine Beinarbeit wurde besser und damit auch meine Schläge. Jetzt macht Tennis wieder Spaß, weil ich drei oder vier Stunden spielen kann und mich anschließend noch immer sehr fit fühle.

SPIEGEL: Können Sie sich noch weiter steigern?

LENDL: Ich denke schon. Ich möchte schneller und noch stärker werden.

SPIEGEL: Noch schneller?

LENDL: Ja, warum denn nicht? Niemand ist perfekt. Vielleicht kann ich noch geschmeidiger werden, zum Beispiel bei schnellen Drehungen. Das geht mir, auch wenn es für Sie anders aussieht, einfach noch nicht fix genug. Mit meinem Trainer, Tony Roche ...

SPIEGEL: ... einem Australier, der selbst einmal ein Großer im Tennis war ...

LENDL: ... habe ich viel an Flugbällen gearbeitet und daran, nach dem Service oder einem schnellen Schlag von der Grundlinie ganz schnell ans Netz zu kommen. Tony hat mir vor allem geholfen, die Furcht - nein, besser -, das Unbehagen und die Unbeholfenheit bei Netzattacken zu überwinden.

SPIEGEL: »McEnroe führte sich oft auf, als ob ihn der liebe Gott zur Nummer eins auf den Tennisplätzen bestimmt habe«, schrieb »Sports Illustrated«. Und: »Heute sieht er eher aus wie Ludwig XVI. am Vorabend der Französischen Revolution.« Wenn der Thron wackelt, will jeder den Kopf des Königs. Befürchten Sie, der Sie jetzt die Nummer eins sind, ein ähnliches Schicksal, verfolgt von einem Rudel eifersüchtiger Konkurrenten?

LENDL: Alle reden von der Belastung für die Nummer eins. Was ist mit dem Druck auf die Nummer zwei, die einst die Nummer eins war wie McEnroe? Borg wurde damit nicht fertig. McEnroe hat Probleme damit, als Nummer zwei zu leben. Connors kam damit klar, aber sehr, sehr viel später in seiner Karriere. Was es für mich auf lange Sicht bedeutet, Nummer eins zu sein, weiß ich heute nicht. Ich weiß nur, daß ich mich im Augenblick sehr gut fühle, um Ihnen die Wahrheit zu sagen.

SPIEGEL: Ganz oben zu sein muß wahrhaftig ein Gefühl großer Erleichterung

für Sie sein. Jahrelang galten Sie als jemand, der regelmäßig die wichtigen Spiele verlor, als der geborene Zweite.

LENDL: Ganz da oben zu stehen bereitet wirklich große Genugtuung. Ich habe lange sehr, sehr hart gearbeitet, und jetzt habe ich es geschafft. Das ist der gerechte Lohn.

SPIEGEL: Es scheint, daß dieselbe Einschätzung, die einer der Manager Björn Borgs von dessen Ernsthaftigkeit hatte, auch für Sie gilt. Er sagte: »Björns Vorstellung vom guten Leben vor einem wichtigen Turnier war sechs Stunden Training täglich und ansonsten drei Wochen lang das Hotelzimmer nicht zu verlassen.«

LENDL: So trifft das für mich nicht zu. Ich trainiere auch hart, aber ich schalte dann wieder ab. Ich trainiere von 10 bis 12 Uhr, dann gehe ich essen und anschließend zum Vergnügen auf den Golfplatz. Um drei Uhr bin ich zurück und trainiere wieder mit voller Konzentration. Ich kann mich voll mit Tennis befassen, wenn es dafür Zeit ist. Ansonsten aber versuche ich, ganz normal zu leben.

SPIEGEL: Normales Leben, was bedeutet das?

LENDL: Ich schaue mir oft Eishockey an. Ab und zu spiele ich sogar selbst für wohltätige Zwecke. Ich liebe Golf und spiele es, wann immer ich die Gelegenheit dazu finde. Ich lese gern Zeitung, schaue mir jeden Morgen die Nachrichten im Fernsehen an. Ich weiß, was in der Welt vor sich geht.

SPIEGEL: Auf Sie trifft nicht unbedingt das Bild zu, das sich die Leute von Profi-Sportlern machen - ziemlich oberflächlich oder, weniger höflich gesagt, dumm.

LENDL: Ich bin vielseitig interessiert. Ich lese Geschichtsbücher, ich finde die Raumfahrt faszinierend. Ich habe mich mit den deutschen »V1«- und »V2«-Waffen beschäftigt und interessiere mich für moderne Technologie. Ich habe in der Schule immer Mathematik und Physik gemocht. Computer und so.

SPIEGEL: Besitzen Sie einen Computer?

LENDL: Ich habe ein paar zu Hause stehen.

SPIEGEL: Sie sind vielfacher Millionär, haben teure Autos wie Porsche und Mercedes. Ihnen gehören Grundstücke, und Ihr Bankkonto ist sicherlich nicht überzogen. Was motiviert Sie heute? Sie kennen den Ruhm, und reich sind Sie auch.

LENDL: Vergessen Sie nicht, es ist nicht immer einfach, wenn man dauernd herumreisen muß. Aber ich will mich nicht beklagen. Ich habe mir dieses Leben ja selbst ausgesucht, und ich genieße es. Außerdem liebe ich das Tennisspielen. Es macht mir noch immer sehr viel Spaß. Deswegen spiele ich weiter, und deswegen reise ich weiter.

SPIEGEL: Viele Jahre galten Sie als der Sauertopf des Tennis. Man nannte Sie »Ivan den Schrecklichen«. Sogar nach einem Turniersieg sahen Sie aus wie ein Mann, der an Magengeschwüren leidet. Seit kurzem wirken Sie entspannt, lächeln auch. Wie erklären Sie diesen

Wandel, der amerikanischen Zeitungen sogar Schlagzeilen wert war?

LENDL: Privat war ich eigentlich nie ein Kind von Traurigkeit. Heute bin ich einfach reifer, selbstbewußter. Als ich in die USA kam, machte ich einen Kulturschock durch. Ich mußte soviel lernen, mich an eine Gesellschaft anpassen, die mir ganz fremd war. Ich reiste allein. Kein Bosch und kein Tiriac standen mir bei Anfällen von Heimweh bei. Ich mußte mich allein durchbeißen. Aber ich war grimmig entschlossen, Erfolg zu haben. Das führt zu Spannungen, zu Frustrationen. Heute fühle ich mich in dieser Gesellschaft sehr wohl. Die Leute sind freundlich und offen. Sie erlauben mir glücklich und ich selbst zu sein. Europäer sind anfangs immer ein bißchen reservierter, deswegen hielten mich die Amerikaner oft fälschlich für zugeknöpft.

SPIEGEL: Die »New York Times« hat Sie neulich charakterisiert als »den Typ von Mensch, der zuerst durch das Guckloch schaut, bevor er die Haustür öffnet«.

LENDL: Mein Privatleben bleibt privat.

SPIEGEL: Keine wilden Disconächte?

LENDL: Ganz sicher nicht.

SPIEGEL: Auch noch kein Eheleben?

LENDL: Fragen Sie mich das in 15 Jahren noch mal.

SPIEGEL: Es sieht doch fast so aus, als ob Sie niemals wieder in die Tschechoslowakei zurückkehren würden, nicht wahr?

LENDL: Nun, ich warte auf die sogenannte Grüne Karte ...

SPIEGEL: ... die permanente Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis für die Vereinigten Staaten.

LENDL: Ja, so etwa steht es im Augenblick. Ich versuche, mich auf meine Tenniskarriere zu konzentrieren, nicht auf Fragen der Staatsbürgerschaft.

SPIEGEL: Es bleibt Tatsache, daß Sie noch im letzten Jahr im Daviscup-Team Ihres Landes standen. 1986 gehören Sie ihm nicht mehr an.

LENDL: Man hat mich nicht nominiert.

SPIEGEL: Warum hat man Sie nicht nominiert?

LENDL: Ich weiß nicht. Das müssen Sie die fragen.

SPIEGEL: Was könnte denn der Grund sein?

LENDL: Schon 1983 nachdem ich ein Turnier in Südafrika gespielt hatte, gab es zwischen den tschechoslowakischen Behörden und mir einigen Streit. In der Folge unternahmen wir große Anstrengungen, die Meinungsverschiedenheiten beizulegen. Das ist aber nie wirklich geglückt.

SPIEGEL: Die Regierung in Prag möchte, daß Sie in der Tschechoslowakei leben statt in Greenwich, Connecticut?

LENDL: Es ist für mich wichtig, dort zu wohnen, wo ich mich auf die Turniere bestmöglich vorbereiten kann. Nach meiner Überzeugung ist das Amerika.

SPIEGEL: Die Differenzen zwischen Ihnen und dem tschechoslowakischen Tennisverband wurden offensichtlich, als die CSSR gegen die Bundesrepublik im Daviscup-Halbfinale antrat. Erst wollten Sie wegen einer Verletzung nicht antreten, dann kamen Sie trotzdem, spielten aber nur im Doppel. Hatte man Druck auf Sie ausgeübt?

LENDL: Das hat mich alles sehr getroffen. Wegen meiner Verletzung hätte ich keinesfalls trainieren oder gar antreten dürfen. Aber Jan Kodes, der Kapitän unseres Daviscup-Teams, bat mich, wenigstens für das Doppel zu kommen. Erst sagte ich nein, doch dann überredete er mich. Ich wollte der Mannschaft helfen. Im nachhinein muß ich sagen, das war ein Fehler. Ich hatte ihnen erklären müssen: »Schaut, ich kann wirklich nicht spielen, auch kein Doppel. Das bringt nichts, denn ich konnte mich nicht vorbereiten und spiele deswegen nicht gut genug.« So war es dann auch, und die Reaktionen und die Kritiken im Anschluß haben mich wirklich verletzt.

SPIEGEL: Würden Sie wieder für Ihr Land im Daviscup spielen, wenn die Funktionäre Sie dazu auffordern?

LENDL: Im Augenblick kann ich das schwer beantworten. Ich kann nicht einmal sagen, ob man mich nochmals einladen wird.

SPIEGEL: Haben Sie Heimweh nach der Tschechoslowakei? Zumindest manchmal?

LENDL: Nicht wirklich. Ich bin schon so oft und schon so jung von zu Hause weg gewesen, daß die Definition von Heimat für mich abstrakt geworden ist. Meine Heimat ist jetzt Connecticut. Dort habe ich meine sechs Hunde, dort spiele ich Golf, treffe ich meine Freunde.

SPIEGEL: Dort trainieren Sie auch und bereiten die Taktik für Ihre verschiedenen Gegner vor.

LENDL: Genauso ist es. Für das Masters-Finale gegen Becker

schaute ich mir einen Videofilm unseres vorhergegangenen Fünf-Satz-Matchs in Wembley an. Ich habe vier Stunden damit zugebracht. Ich studierte Beckers Schwächen, seine Art zu spielen, und wußte dann ganz genau, was Boris gern tut und welche taktischen Fehler ich damals machte.

SPIEGEL: Die Entscheidung damals war knapp.

LENDL: Ja, aber das letzte Mal nicht mehr, nicht in New York. Außer dem Video half mir auch mein kleines Buch.

SPIEGEL: Die Bibel?

LENDL: Ich habe ein Büchlein, in dem ich die Eigenheiten jedes einzelnen Spiels vermerke und auch jedes Spielers auf den ich schon einmal getroffen bin. Ich schreibe mir auf, welche Schläge und Taktiken sich für mich auszahlten und womit mich mein Gegner überraschte. Vor allen wichtigen Matchs gehe ich dieses Buch durch.

SPIEGEL: Offensichtlich funktioniert das, zumindest was Boris Becker angeht.

LENDL: Lassen Sie sich bloß nicht täuschen, Becker ist ein sehr gefährlicher Mann.

SPIEGEL: Der Kronprinz des Tennis, Ihr Nachfolger?

LENDL: Wenn Sie gegen einen Mann wie Becker nicht so gut spielen, wie Sie können, gewinnen Sie nicht. Gar keine Frage. Aber ich mache mir keine Sorgen über einen bestimmten Spieler. Ich sehe, Becker ist ein beeindruckender Spieler, aber da gibt es auch noch andere.

SPIEGEL: Wilander, Edberg, Noah, Leconte, alles Spieler, von denen Sie schon geschlagen wurden.

LENDL: Jeder von ihnen ist auf seine Art gefährlich. Wilander, weil er selbst kaum Fehler macht. Wenn man gegen ihn nicht aggressiv und gut spielt oder sich etwa in schlechter körperlicher Verfassung befindet, dann schlägt er einen. Edberg und Becker spielen anders. Der Schwede kommt ans Netz auf Teufel komm raus. Das macht ihn so gefährlich. Auf Becker muß man aufpassen, weil sein Aufschlag einfach riesig ist, und er macht außerdem sehr viel Druck, sogar von der Grundlinie. Daher muß man gegen ihn sehr schnell und wachsam sein.

SPIEGEL: Becker ist der einzige von diesen Spielern, der mit 17 Wimbledon gewonnen hat und mit 18 im Masters-Finale stand.

LENDL: Aber in der Computer-Rangliste liegt er hinter Wilander und Edberg.

SPIEGEL: Wollen Sie damit sagen, daß die Deutschen die Stärke und die Entwicklungsmöglichkeiten ihres neuen Helden übertrieben hoch einschätzen?

LENDL: Sie sind von ihm hell begeistert, und warum auch nicht? Aber so können sie vielleicht nicht erkennen, daß er noch nicht unschlagbar ist.

SPIEGEL: Herr Lendl, wir danken Ihnen für dieses Gespräch. *KASTEN

Ivan Lendl *

verdrängte 1985 John McEnroe von Platz eins der Weltrangliste. Er stammt aus Ostrava und gewann mit der CSSR-Mannschaft 1980 den Daviscup. Seine beiden Siege in Grand-Slam-Turnieren (Paris, Wimbledon, Flushing Meadow, Melbourne) gelangen ihm 1984 (Paris) und 1985 (Flushing Meadow) jeweils im Finale gegen McEnroe. Beim Masters-Turnier erreichte er sechsmal das Finale und siegte dreimal, zuletzt im Januar in New York gegen Boris Becker. Lendl, 25, kassierte bislang 9046688 Dollar Preisgelder. Von seinen Einkünften zahlte er bis zum 21. Lebensjahr die Hälfte an das Tenniszentrum Ostrava, wo er als junger Spieler geschult worden war. Die CSSR-Agentur Pragosport kassiert eine Jahrespauschale von 50000 Dollar. Lendl lebt in den USA.

Mit Redakteuren Helmut Sorge und Teja Fiedler im Haus einesGeschäftsfreundes in Laguna Beach (Kalifornien).

H. Sorge, T. Fiedler
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