FAHR-DERBY Von Quälerei keine Rede?
Roßschlachter und Abdeckerei mußten erstmalig in der zehnjährigen Geschichte der zur Hamburger Spring-Derby-Woche gehörenden Wettbewerbe um das Deutsche Fahr-Derby für den Veranstalter tätig werden.
Kaum hatte Sieger Franz Lage kühlen Sekt in seine ausgedörrte Kehle laufen lassen, da begann am Ziel in Hamburg-Osdorf aufgeregtes Getuschel.
Die Turnier-Offiziellen begriffen, daß sich Ungeheuerliches zugetragen hatte: Auf der abschließenden 30-Kilometer-Geländeprüfung waren drei Pferde zuschanden gehetzt worden.
Als der Oldenburger Jungbauer Bernd Duen, 24, am vorvergangenen Freitag zu der unter so makabren Umständen geendeten Gelände-Hatz startete, hatte er sich Hoffnungen auf den Sieg machen können. Wenig später war die elfjährige Stute Adelheide, linkes Vorderpferd seines Vierspänners, nur noch Rohmaterial für Tierkörpermehl und technische Fette.
Vier Kilometer vor dem Ziel hauchte Adelheide am Haus Nummer 28 der Grimmstraße in Hamburg-Iserbrook ihr Leben aus. Diagnostizierte Tierarzt Professor Fritz Wittmann: »Herzlähmung infolge Überanstrengung und Hitze.«
Bauer Duen aus Altenoythe (Oldenburg) als Besitzer der Stute bekam für sein verendetes Zugtier keinen Pfennig, da zum einen der Veranstalter jede Haftung ablehnt, zum andern Adelheides Endstation, Hamburgs »Sammelstelle für Tierkörper-Verwertung und Konfiskate«, ohnehin mit staatlichen Zuschüssen arbeitet.
Mit ihrem derart unrentablen Ableben entging die Oldenburger Stute dem Schicksal ihrer Leidensgefährten, der sechsjährigen Stute Aabacka (Fahrer Fritz Leppel) und des achtjährigen Wallachs Excellenz (Fahrer Reimer Nagel). Diese Tiere quälten sich noch durchs Ziel, bevor sie - total erschöpft - vom Pferdeschlachter Oswald Grün getötet wurden.
Meister Grün konnte indes die Körper der geschlachteten Sportopfer nicht sofort geschäftlich verwerten: Sechs Tage nach dem Kollaps waren Aabacka und Excellenz noch immer nicht amtlich freigegeben zu roßschlächterlicher Verarbeitung. Zu diesem Zeitpunkt konnte der unfreiwillig zum aktiven Fahr-Derby-Teilnehmer avancierte Pferdeschlachter allerdings noch auf andere Chancen rechnen, zu relativ billigem Fleisch-Nachschub zu gelangen. Denn noch immer war nicht sicher, ob zwei weitere Pferde, die nach dem Fahr-Derby mit in der Fachsprache als »Verschlag« bezeichneten Erschöpfungszuständen behandelt wurden, durchkommen würden wie jenes sechste Opfer des martialischen Wettbewerbs, das die Veterinäre inzwischen auf die heimatlichen Weiden entlassen konnten.
Obwohl von neun gestarteten Vierspännern drei durch Pferdeverluste geschwächt waren, traten zur festlichen Siegerehrung sieben Gespanne an: Fahrer Leppel, unter dessen Peitsche die Stute Aabacka ins Verderben getrabt war, hatte ein Ersatzpferd zur Stelle, kassierte für seinen zweiten Platz 1200 Mark - der Sieger Lage erhielt 1600 Mark - und hatte den größten Anteil am Segen der Ehrenpreise und Prämien, der sich nun über alle Derby-Fahrkünstler ergoß. In der von festlichgrauen Zylindern beherrschten Atmosphäre auf dem Flottbeker Derbyplatz fiel kein Wort über den Opfertod der drei Exemplare von »Kamerad Pferd« für die Sache des Fahrsports.
Das Massenblatt »Bild Zeitung« verlor zwar Worte, konnte sich in einem weichen Ja-und-Nein-Kommentar jedoch nicht dazu entschließen, das Kind beim Namen zu nennen: »Natürlich werden jetzt wieder einige kommen und von Tierquälerei sprechen... Von Quälerei kann aber keine Rede sein in Prüfungen, in denen... zum Wohle der Zucht die härtesten Maßstäbe, angelegt werden müssen.«
Da konnte auch das »Hamburger Abendblatt« nicht zurückstehen, das sich von jeher für den Tierschutz eingesetzt hat. Es widmete der unglücklichen Adelheide einen umfangreichen, herzbewegenden Nachruf («... Die Stute Adelheide ..., aufgewachsen auf einer sattgrünen Wiese im Oldenburger Land, starb nach einem Leben voller Arbeit und Eifer auf einer staubigen Straße ... Sie war ... ein braves Pferd, ehrlich bis zur Erschöpfung, die ihr Tod war"), forschte jedoch im übrigen vorsichtig nach den Ursachen des Fahr-Derby-Dilemmas.
Urteilte der fachkundige Landstallmeister a.D. des Gestüts Bad Harzburg, Fellgiebel, Schwiegervater des Springreiter-Exweltmeisters Hans Günter Winkler: »Was soll es . . . mit Peitsche und allen sonstigen Hilfen auf Teufel komm heraus' zu fahren. Ich habe Fahrer gesehen, die am Ende der Deichsel standen und sich... wie Irre gebärdeten.«
Zwei Ursachen trafen zusammen: mörderische Hitze und übertriebener Ehrgeiz junger Fahrer, die wie die Teufel fuhren.
Auch den jungen Rosselenkern war offenbar nicht entgangen, was vor der Schlußprüfung in Turnierkreisen »geflüstert« wurde: Man habe den Kurs extra schwierig ausgelegt, um dem Abonnementsieger seit 1954, dem 45jährigen Gutspächter Franz Lage aus Wetterade (Holstein), diesmal den Erfolg zu erschweren. Das erwies sich als törichte Hoffnung, denn der Routinier holte sich trotzdem seinen sechsten Fahr-Derby-Sieg in den nach einem Punktsystem gewerteten sechs Einzelwettbewerben, die sich unter anderem aus Dressur, Eignungsprüfung und Geländefahrt zusammensetzten.
Wie im Fahr-Derby-Finish der Ehrgeiz geschürt wurde, bekam besonders deutlich Unglücks-Zügelhalter Bernd Duen zu spüren.
Die große Versuchung, einen nahen Sieg mit Gewalt zu erzwingen, begann für Duen am Startplatz der Schlußprüfung. Dort drückte man ihm einen Zettel in die Hand, auf dem er die Wertzahlen der Spitzengruppe aus den schon beendeten fünf Teil-Konkurrenzen ablesen konnte. Er war Dritter - aber sein Punktrückstand war so gering, daß die Geländeprüfung entscheiden mußte. Er witterte seine Chance.
Duen glaubte an seine Siegchance um so fester, als ihm der Strecken-Richter nach der Schritt-Strecke mit einem Blick auf die Stoppuhr verraten hatte: »Sie haben eine famose Zeit herausgefahren. Für Sie ist noch alles drin. Wenn Sie auf der
Trabstrecke sind - fahren Sie wie um Ihr Leben!«
Wenig später mußte der auf diese Weise angeheizte Jungbauer erleben, wie - zum Entsetzen einer Schar spielender Kinder - Stute Adelheide in Iserbrook zusammenbrach.
Dreißig Minuten bemühten sich wasserschleppende Hausfrauen und rotverbrannte Straßenarbeiter, die dem Fahrer zunächst eine Tracht Prügel anboten, um das schweißbedeckte, zuckende Vorderpferd. Das Angebot eines Anliegers, einen Tierarzt heranzutelephonieren, ignorierte Duen. Immer noch glaubte er, seinen vierbeinigen Sportkameraden mit branchenüblichen Hausmitteln - Frottieren der Fesseln mit nassen Tüchern in Herzrichtung - wieder auf die Beine zu bringen. Bevor Adelheide verendete, spornte die auf dem Wagen mitfahrende Hilfsrichterin Gisela Albinus den jugendlichen Gespann-Chef noch an: »Sie schaffen es noch, Sie liegen noch glänzend in der Gesamtzeit.«
Richter, Offizielle, der »Vereinigte Norddeutsche und Flottbeker Reiterverein« als Veranstalter und die ungeschoren über den Kurs gekommenen Fahrer legten zusammen, um den durch die Pferdeverluste zu Leidtragenden gewordenen Fahr-Derby-Teilnehmern die Anschaffung neuer Tiere zu erleichtern.
Verendete Adelheide (vorn r.): »Noch einem Leben voller Arbeit«