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»Von vorn bis hinten belogen«

Seit Monaten wurden Dopingproben vom SC Neubrandenburg, dem Klub der Sprintweltmeisterin Katrin Krabbe, argwöhnisch beobachtet: Häufig waren sie manipuliert. Drei Proben, im Trainingslager in Südafrika genommen, fielen jetzt wieder auf - die steile Karriere des größten deutschen Leichtathletik-Stars ist jäh zu Ende.
aus DER SPIEGEL 7/1992

Wann immer in den letzten Monaten der Kölner Dopingfahnder Professor Manfred Donike in seinem Labor Urinproben aus Neubrandenburg analysierte, erfaßte ihn heiliger Zorn. Niemals konnte er Anabolikaeinnahmen nachweisen. Doch die Meßergebnisse sagten dem Biochemiker eindeutig: »Da stinkt es ganz gewaltig.«

Der Professor sah sich von einem Mann getäuscht, der in der deutschen Leichtathletik als Meistermacher gilt, seitdem er die Sprinterin Katrin Krabbe zu zwei Weltmeistertiteln geführt hat: Thomas Springstein, 33, Coach des SC Neubrandenburg-Nike-Club. In ihm vermutete Donike den Drahtzieher der Manipulationen, mit denen der Testurin offensichtlich für korrekte Analysen untauglich gemacht worden war.

Verärgert informierte Donike den damaligen Dopingbeauftragten des Leichtathletik-Verbandes, Theo Rous, klärte ihn über die Machenschaften auf und verbat sich weitere Tricks: »Sagen Sie das dem Springstein.«

Die Warnung wurde ignoriert - am letzten Freitag hatte die deutsche Leichtathletik ihren womöglich größten Dopingskandal.

Drei Proben, genommen während eines Trainingslagers in Südafrika, waren wieder manipuliert worden. Der Urin war extrem verdünnt und wies in allen drei Fällen so viele identische Werte auf, daß nur ein Schluß möglich war: Er stammte von einer einzigen Person - oder war ein Harn-Cocktail.

Die Begleitzettel wiesen aber die Läuferinnen Katrin Krabbe, Vize-Weltmeisterin Grit Breuer und Ex-Weltmeisterin Silke Möller als Probanden aus, allesamt Springstein-Schützlinge. Einen Tag vor den nationalen Hallen-Meisterschaften sperrte der Deutsche Leichtathletik-Verband (DLV) die drei Sprinterinnen.

Eilig wurde am Freitag nachmittag Donike, der die Dopingkontrollen bei den Olympischen Winterspielen in Albertville überwacht, aus Frankreich nach Köln zurückgeholt, um noch in der Nacht zum Samstag eine vorgeschriebene Gegenanalyse zu erstellen.

Doch noch bevor Donikes Computer die Werte der B-Probe ausspuckte, stand fest: Katrin Krabbes Karriere ist zu Ende.

Eine Bestätigung des ersten Ergebnisses bedeutet vier Jahre Sperre, ein möglicher Freispruch wegen eines Verfahrensfehlers stellt die Glaubwürdigkeit der Weltmeisterin keineswegs wieder her. Angesichts ihrer labilen Psyche wird Krabbe, die sich ohnehin schon seit Monaten »verfolgt« fühlt, die Siegesläufe von der Weltmeisterschaft in Tokio bei den Sommerspielen in Barcelona kaum wiederholen können.

Der Fall Krabbe zeigt, daß zwei Jahre nach den Enthüllungen der Dopingpraxis in beiden Teilen Deutschlands die Athleten keineswegs so sauber sind, wie es die Funktionäre in Sonntagsreden so gern beteuern ("Wir sind die Vorreiter der Anti-Doping-Bewegung"). Im Gegegenteil: Die vereinten Deutschen dopen und tricksen jetzt nach den in Ost und West bewährten Methoden.

Das Fachwissen stammt aus der Ex-DDR, die Tarnung erfolgt nach erprobtem amerikanischem Muster. Der Urin wird verdünnt, vermischt - oder es wird auf mannigfaltige Weise schlicht Fremdurin abgeliefert. Angesichts der dreisten Praktiken wunderte sich ein Leichtathletik-Bundestrainer nicht mehr darüber, daß der Kollege Springstein »so sicher ist, nicht erwischt zu werden«.

Ein Beschluß der wichtigsten deutschen Funktionäre spielte dopingversessenen Athleten und Trainern obendrein in die Hand: Im Olympiajahr, so wurde verfügt, sollten »indirekte Nachweisverfahren vorläufig ausgesetzt werden«.

Nur mit solchen Verfahren aber kann Doping mit dem männlichen Sexualhormon Testosteron nachgewiesen werden. Das anabole Hormon läßt nicht nur die Muskeln schneller wachsen, sondern bringt, in hohen Dosen und pur gespritzt, dem Sportler auch das aufputschende Rambo-Gefühl von Stärke, Aggressivität und Unschlagbarkeit.

»Testo«, wie der Kraftstoff liebevoll im Doper-Jargon genannt wird, ist weltweit beliebt, allein 1990 wurden 171 positive Testosteron-Befunde registriert. Der amerikanische Kugelstoßmeister Jim Doering wurde ebenso erwischt wie sein russischer Kollege, der Europacup-Dritte Alexander Bagatsch, oder die chinesische Mittelstreckenrekordlerin Sun Suimei.

In Deutschland, wo schon 1986 Biathlon-Olympiasieger Peter Angerer als Testo-Doper ertappt wurde, waren im letzten Jahr sechs Kontrollen positiv, darunter die einer Frau. Ans Licht kam nur der Verstoß eines Wolfsburger Gewichthebers; die anderen Fälle, darunter auch einer im Bobverband, wurden routiniert vertuscht. Testosteron, hat Donike festgestellt, sei inzwischen »ohne Zweifel das am häufigsten angewandte anabole Steroid«. Und: »Im Vorfeld der Winterspiele ist gedopt worden.«

Mit der Vereinigung hat das Testosteron-Doping in Deutschland neuen Aufschwung bekommen. In der DDR gehörte das Androgen, das bei Frauen einen Bart sprießen und die Klitoris »auf peinliche Ausmaße« (so US-Sprinterin Diane Williams über sich selbst) wachsen läßt, zum Standardprogramm des staatlich organisierten Manipulationswahns. Selbst Weltmeisterinnen und Olympiasiegerinnen wie Heike Drechsler (Weitsprung) oder Bärbel Wöckel (Sprint) wurden mit dem Mittel traktiert, das als Transsexuellendroge beliebt ist - für Frauen, die männlich wirken wollen.

Je intensiver die Dopingkontrollen wurden, desto beliebter wurde Testo. Während synthetische Anabolika noch nach Tagen nachzuweisen sind, ist Testosteron als körpereigenes Hormon - es wird in geringen Mengen in den männlichen Keimdrüsen und den Nebennieren gebildet - und wegen kurzer Ausscheidungszeiten schon nach 24 Stunden nicht mehr aufzuspüren.

Was früher in der Ex-DDR unter höchster Geheimhaltung wissenschaftlich ausgetestet wurde, zählt heute offensichtlich zum Allgemeinwissen von Trainern und Athleten. Bei der Leichtathletik-Weltmeisterschaft in Tokio überraschte eine Trainerin, die deutsche Mittelstreckenläuferinnen betreute, unaufgefordert den jetzt als Trainer arbeitenden Bronzemedaillengewinner von Montreal, Paul Heinz Wellmann, mit einem eindeutigen Rat: Wenn Doping erwünscht sei, »dann muß man reines Testosteron nehmen«.

Ein pfälzischer Sportarzt berichtete kürzlich, daß Athleten mit den Testo-Ampullen zu ihm kämen, um sich das Mittel fachgerecht spritzen zu lassen. Bei den Selbstinjektionen der Sportler sei es häufiger zu Spritzenabszessen gekommen.

Neben den Spritzen gibt es inzwischen auch Testo-Pillen, -Zäpfchen, -Cremes und -Implantate. Donike wies jetzt auf eine neue »Technik des Dopens, die schon Realität zu sein scheint«, hin: intravenöse Injektionen oder Infusionen - der Sportler hängt sich nach dem Training schnell an den Tropf.

Donikes Labor mißt zwar weiterhin bei den Trainingskontrollen den Testosteron-Wert und gibt ihn an die Verbände weiter. Doch diese können mit Ausnahme der Gewichtheber auch positive Befunde ignorieren - entgegen der gültigen Regel des Internationalen Olympischen Komitees.

Dennoch wollten viele deutsche Athleten ganz sichergehen. Von 2000 Proben aus Trainingskontrollen, stellte Donike fest, waren im letzten Jahr rund 140 so manipuliert worden, daß die Dichte des Urins nicht mehr ausreichte, um den Anabolikakonsum nachzuweisen.

Auf internationalen Konferenzen erkannten die Fahnder schnell, wie sie von den Dopingsündern ausgetrickst werden. Mal ist der Urin mit Wasser versetzt - was allerdings durch die ungewöhnlich helle Farbe den Athleten zusätzliche Sorgen bereitet hat. Deshalb tauchten plötzlich hohe Glukosekonzentrationen im Urin auf - ein deutliches Zeichen dafür, daß die Proben mit Fruchtsaft gepanscht worden waren, vorzugsweise mit Orangen- und Apfelsaft. Derartige Betrugsmanöver, darüber sind sich die Experten einig, können künftig nur vermieden werden, wenn schon vor Ort bestimmte einfache Messungen vorgenommen werden, um die Manipulateure frühzeitig zu entlarven.

Und immer häufiger auch mußten die Chemiker in den Labors glauben, mit Fremdurin getäuscht worden zu sein. Vor allem für Frauen ist der Austausch relativ leicht zu bewerkstelligen. Der Urin wird in kleine Plastikbeutel abgefüllt, die vor der Kontrolle in der Vagina versteckt und dann beim Wasserlassen geöffnet werden. Viele Athletinnen, das zeigten diverse Untersuchungen in Kanada, Australien und den USA, beherrschen diese Technik perfekt.

So könnte möglicherweise auch die ungewöhnliche Urinprobe der Neubrandenburger Läuferinnen in Südafrika abgelaufen sein. Die Ärztin, die Krabbe, Möller und Breuer beim Wasserlassen »durch eine Scheibe beobachtete«, versicherte, keine Manipulation bemerkt zu haben. Offensichtlich aber hatte die vorhandene Menge Fremdurin nicht für drei gereicht, er war deshalb noch mit einer Flüssigkeit versetzt und so ein wenig gestreckt worden.

Eine »Fülle von Hinweisen auf Manipulationen« gerade der Neubrandenburger Läuferinnen hat auch der Dopingbeauftragte des Deutschen Sportbundes, Hans Evers, registriert. Als solche wertet er etwa, daß das Trainingslager kurzfristig von Amerika nach Südafrika verlegt worden war, ohne daß die Dopingkontrolleure davon Nachricht erhielten. Die Analysen hätten zudem gezeigt, daß man von »vorne bis hinten belogen wird« - schon vor der WM in Tokio sollen zwei Neubrandenburger Proben besonders aufgefallen sein.

Auch die äußeren Veränderungen bei Krabbe nach dem Trainingslager in Südafrika waren dem obersten Kontrolleur nicht entgangen. Beim Sportfest in Karlsruhe am vorletzten Freitag hatte die außergewöhnlich muskulöse Weltmeisterin schon nach 30 Metern abgestoppt, war locker ins Ziel getrudelt und hatte dennoch eine glänzende Zeit (7,10 Sekunden über 60 Meter) erreicht.

Spöttisch hatten Leichtathletik-Experten daraufhin den Krabbe-Manager Jos Hermens zur Vorsicht gemahnt: »Wenn ihr nicht aufpaßt, läuft die Katrin im Sommer Weltrekord.«

Evers hält die »dichte Indizienkette« gegen Krabbe schon für ausreichend, »eine Nichtnominierung« für die Olympischen Spiele im Sommer in Barcelona zu verlangen - wenn der Verband zu einem Freispruch wegen eines Verfahrensfehlers komme, müsse eben das Nationale Olympische Komitee seine Souveränität bei der Berufung des Olympiateams unter Beweis stellen.

Möglicherweise kommt auf den Leichtathletik-Verband ein langwieriges Verfahren zu. Die ertappten Manipulateure suchten sofort nach Bekanntwerden der Vorwürfe Beistand bei den Rechtsanwälten ihres Sponsors Nike. Der amerikanische Sportartikelhersteller, behauptet Julie Strasser, bis 1988 die Anzeigendirektorin der Firma, hat Erfahrung im Umgang mit Dopingsündern. Für die von ihm gesponserten Steroidbenutzer habe der US-Konzern wissenschaftliche Informationen über die Nebenwirkungen gesammelt, regelmäßige Gesundheitstests bezahlt und über Verschleierungstaktiken aufgeklärt.

Spezialisiert sind die US-Anwälte vor allem darauf, bei der Sportgerichtsbarkeit Verfahrensfehler aufzudecken, die dann zum Freispruch führen. Da könnten sie auch beim DLV fündig werden. Seit dem vorletzten Wochenende sind die Funktionäre von den Manipulationen an den A-Proben informiert. Die Regeln schreiben vor, daß in einem solchen Fall die B-Probe »unverzüglich« zu untersuchen ist. Doch der DLV reagierte erst, als Krabbes Sündenfall durch Indiskretionen publik geworden war.

Außerdem hätte er sofort nach der Feststellung, daß der Urin verdünnt worden war, eine weitere Kontrolle vornehmen müssen - das aber wurde versäumt.

Nicht ausgeschlossen ist es deshalb, daß wie in den USA schon bald auch deutsche Gerichte sich mit den Sperren für Leichtathleten befassen werden.

Dann allerdings besteht die Chance, exakt aufzuklären, von wem der mysteriöse Harn aus Südafrika stammt. Der freiwillige Spender kann mit Hilfe des genetischen Fingerabdrucks ermittelt werden - ein Verfahren, mit dem im normalen Rechtsleben nur Mörder und Vergewaltiger aufgespürt werden.

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