VERBÄNDE / MANAGEMENT Wer führt uns
Vor drei Wochen half FDP-Minister Willi Weyer den CDU-Kanzler stürzen. Am vorletzten Sonnabend trat er selbst zurück.
»Auch ein Rücktritt kann progressiv Sein«, kommentierte Weyer seinen Verzicht auf das Amt des Geschäftsführenden Präsidenten im Deutschen Sporthund (DSB). Den Multipräsidenten Daume (DSB, Nationales Olympisches Komitee, Olympisches Organisations-Komitee München 1972) traf der Schock unerwartet. »Ohne Rücksicht auf persönliches Prestige« versprach Daume die Krise zu beheben. Aber zum Verzicht auf sein DSB-Amt rang er sich nicht durch.
Wasserballspieler Weyer hatte im DSB-Präsidium einen straffen Arbeitsstil eingeführt. Er verschickte nach dem Muster von Kabinetts-Vorlagen frühzeitig Pläne an die Funktionäre, etwa zur Verwaltungs-Neuordnung des DSB, der schon 1970 zehn Millionen Mitglieder zählen wird. Die meisten Präsidiums-Mitglieder palaverten in den entscheidenden Sitzungen dennoch unvorbereitet.
»Im höchsten DSB-Gremium«, witzelte der Münchner Sportjournalist Eugen Vorwitt, »summieren sich anscheinend viele Nullen zu einer erstaunlichen Größe.« Olympiasieger und Versandhaus-Chef Josef Neckermann wählte einen Vergleich aus der Wirtschaft: »Wenn der DSB eine Aktiengesellschaft wäre, hätte es einen Kurssturz gegeben.« Weil er die Verbandsherrscher mehrfach öffentlich kritisiert hatte, hielten sie den erfolgreichen Manager Neckermann von einflußreichen Verbandsposten fern. Sie begrüßten freilich, daß er ihnen über seine Sporthilfe Millionen-Summen verschaffte.
Bis 1966 waren die Krisen-Risse im deutschen Sportkonzern nahezu unbemerkt verkleistert worden. Da holte Daume den schwierigsten und kostspieligsten Auftrag herein, den die Branche zu vergeben hat: das Milliarden-Vorhaben der Olympischen Spiele 1972 in München.
Bundesdeutschlands Alleinsportchef Daume pflegte als Mitglied des Internationalen Olympischen Komitees (IOC) die Auslandsbeziehungen. Er organisierte zugleich den Widerstand gegen die Angriffe des Ostblocks auf den Sport in Westdeutschland und West-Berlin. Außerdem leitete er den Millionenverband DSB. Nun übernahm er zusätzlich die Verantwortung für das Olympia-Unternehmen 1972.
Oft benutzte er das DSB-Präsidium als Zustimmungs-Apparat für seine Entschlüsse. Aber Bündel unbearbeiteter Briefe stapelten sich. Seine Überlastung verzögerte anstehende Entscheidungen. Aus Protest gegen Daumes Ämterhäufung trat der Industrielle Georg von Opel als Präsident der Deutschen Olympischen Gesellschaft zurück.
Eisendaume (Telegrammanschrift seiner Dortmunder Stammfirma) hatte keinen Jung-Manager als Nachfolger für seine Präsidenten-Posten auf gebaut. Alt-Funktionäre, die den DSB nach dem Kriege zum größten Sportverband der westlichen Welt aufgepäppelt hatten, harrten sitzfest auf ihrem Lorbeer aus. Fünf der Mitglieder des ersten DSB-Vorstandes von 1950 parieren bis jetzt dem sanften Daume-Druck.
Das Präsidium entwickelte kaum eigene Ideen, verwässerte jedoch die Reformpläne von Außenseitern. So gründete der DSB zwar einen Ausschuß zur Förderung des Leistungssports, aber selbstherrliche oder unwissende Verbands-Obere wurstelten nach überholten Methoden weiter.
Das Bonner Innenministerium bezahlte mehr als 30 Bundestrainer für verschiedene Sportarten. Einige Verbände verweigerten ihnen die erforderlichen Vollmachten. Deshalb trat der frühere Olympiasieger und Inspekteur der Springreiter, Fritz Thiedemann, demonstrativ zurück, löste Goldmedaillen-Gewinner Manfred Schnelldorfer seinen Vertrag als Trainer der Eiskunstläufer.
So versickerte die Entwicklungshilfe bei einigen Verbänden ergebnislos. Schwerathleten und Turner, Boxer und Fechter, Wasserballspieler, Military- und Springreiter schickten zusammen 75 Sportler zu den Olympischen Spielen nach Mexiko. Ihre Ausbeute: drei Bronzeplaketten. Pensionär Walter Lippold, 67, damaliger Präsident des Deutschen Athleten-Bundes (DAB) und sein vorwiegend aus ehemaligen Ringern zusammengesetzter Vorstand benachteiligten die Gewichtheber. Als deshalb Gewichtheber-Trainer Wolfgang Peter einen eigenen Verband anstrebte, stießen sie ihn aus. Lippold: »Seit 1891 gehörten die Gewichtheber immer zu den Ringern.«
In diesem Jahr erlangten die Hantel-Athleten ihre Selbständigkeit. Der Internationale Gewichtheber-Verband duldete keine von Ringern vertretenen Heber mehr. Doch Pannen passierten weiterhin. So stemmte der Heber Werner Kucera jüngst zwei Deutsche Rekorde, der Olympia-Fünfte Rudolf Mang einen Junioren-Weltrekord. In der Statistik werden die Bestleistungen niemals erscheinen: Die vorgeschriebene Anzahl von drei lizenzierten Kampfrichtern fehlte.
Der sparsame Amateur-Boxverband (DABV) glaubte ohne bezahlten Geschäftsführer auszukommen. Den Schatzmeister Ferdinand Nittenwilm hinderte jedoch berufliche Überlastung am unbezahlten Funktionärswerk. So geriet die Buchführung in Rückstand; Rechnungen und Mahnungen bündelten sich.
Auch in der Geschäftsstelle des Deutschen Handball-Bundes (DHB) stapelten sich unerledigte Akten. Durch Zufall entdeckten die Funktionäre ein Loch in der Kasse. Erst langwierige Untersuchungen klärten die Höhe der Fehlsumme: 148 000 Mark. Nun steht Geschäftsführer Albert Willing vor Gericht.
»Die derzeitige Führungsstruktur führt zwangsläufig zur Krise«, analysierte DSB-Vizepräsident Weyer, »die Krise löst unweigerlich sportliche Niederlagen aus, die aus der Bundesrepublik ein sportliches Entwicklungsland machen.« Die straff geführten DDR-Athleten überholten die westdeutsche Konkurrenz (und die Sowjet-Union) in der Leichtathletik, im Schwimmen und Rudern.
Bei 14 Welt- und Europameisterschaften dieses Jahres sammelten DDR-Sportler 108 Medaillen -- eine auf 157 000 Einwohner. Trotz 11,26 Millionen Mark aus dem Innenministerium (1969) und 1 588 000 Mark aus Neckermanns Sporthilfe erkämpften die bundesdeutschen Spitzen-Athleten nur 60 Medaillen -- eine auf 983 000 Bundesbürger.
Bei den Leichtathletik-Europameisterschaften in Athen revoltierte erstmals eine Nationalmannschaft. Gegen den Willen ihrer Führung starteten die westdeutschen Sportler nicht. Sie setzten den Rücktritt ihres Präsidenten Dr. Max Danz durch.
Das DSB-Präsidium nahm die Sturmzeichen nicht wahr. Der 19köpfige »Wasserkopf« (Ruder-Präsident Dr. Claus Hess) blockierte Weyers Plan: Er wollte das Präsidium der Amateur-Funktionäre verkleinern und nur noch als Kontrollorgan einsetzen. Die Arbeit sollten bezahlte Manager übernehmen.
So gab Weyer sein »geliehenes Halb- oder Viertelmandat« zurück. Nach ihm beurlaubte sich auch DSB-Hauptgeschäftsführer Karlheinz Gieseler von der Verantwortung. Er wollte offensichtlich für die Folgen ausbleibender Entscheidungen nicht länger eintreten.
»Wer führt uns denn?« verzweifelte Eissport-Präsident Herbert Kunze, der Generalsekretär des Münchner Organisations-Komitees. Knapp drei Jahre vor den Olympischen Spielen ist die bundesdeutsche Sportführung wie durch einen Herzinfarkt gelähmt worden. Nun droht der DSB 1970 sogar obdachlos zu werden.
Zum 31. Oktober nächsten Jahres hat er sein Büro in der Frankfurter Arndt-Straße 39 gekündigt. Ob das neue Haus des Sports bis dahin wie vorgesehen bezugsfertig wird, ist ungewiß. Das DSB-Präsidium hat über die seit Monaten fertigen Entwürfe noch nicht entschieden.