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Artikel 52 / 110

»Werte fürs Leben«

DFB-Trainer Joachim Löw über die Etappen der Vorbereitung auf die Fußball-WM 2006, die Torwartfrage in der Nationalelf, charakterlose Spieler und Jürgen Klinsmanns Zukunft
Von Jörg Kramer und Alfred Weinzierl
aus DER SPIEGEL 33/2005

SPIEGEL: Herr Löw, technische Geräte wie Computer zu bedienen oder Videorecorder zu programmieren, bezeichnen Sie nicht als Ihre Stärke. Wie kommen Sie mit den modernen Kommunikationsmitteln klar, die Bundestrainer Jürgen Klinsmann in den Haushalt jedes Nationalspielers und Mitglieds des Betreuerstabs einführte?

Löw: Ich habe mich da im ersten Jahr unserer Amtszeit eingearbeitet. Es geht ja in erster Linie nur um die Beantwortung von E-Mails und um Powerpoint-Präsentationen. Das kann man lernen. Bei der Kommunikation zwischen Teammanager Oliver Bierhoff, Torwarttrainer Andreas Köpke, Jürgen und mir überwiegt allerdings immer noch das Gespräch. Mit Jürgen telefoniere ich fast täglich.

SPIEGEL: Auch in den Tagen, da der Spielerkader für den Test am Mittwoch in Rot-

terdam gegen die Niederlande ausgesucht wurde, hielt sich Klinsmann in seiner Wahlheimat Kalifornien auf. Wie haben wir uns die Abstimmung zwischen ihm und seinem engsten Mitarbeiter vorzustellen?

Löw: Am Montag nach dem ersten Bundesligaspieltag hatten wir eine umfangreiche Besprechung. Dann haben wir die Gespräche mit den Vereinstrainern unter uns aufgeteilt. Wir wollten erfahren: Wie war die Saisonvorbereitung? Wie hat sich der Spieler präsentiert? War er zeitweilig angeschlagen? Und dann haben wir uns am Dienstag noch einmal beraten.

SPIEGEL: Sie gelten als der strategische Kopf im Betreuerstab der Nationalelf. Was sind die taktischen Lehrinhalte der Rotterdam-Woche?

Löw: Die Schwerpunkte stehen ja seit langem fest. Wir haben uns Etappenziele gesetzt, und der Confederations Cup im Juni hat uns Aufschlüsse gegeben, was bis Mitte 2006 noch zu tun ist.

SPIEGEL: Welche Etappenziele sind erreicht?

Löw: Wir haben eine Mannschaft geformt, die ein positives Auftreten hat, mit der sich das Publikum identifiziert. Mit einer offensiven, risikofreudigen Spielweise. Wir haben konsequent junge Spieler eingebaut, die Mannschaft ist zu einem Team zusammengewachsen. Wegen der begrenzten

Zeit wollten wir zunächst nicht zu viele Schwerpunkte setzen. Bislang betrafen sie mehr die Offensive, jetzt müssen wir das Gleichgewicht herstellen: Wir wollen die Mannschaft insgesamt defensiv verbessern. Das gilt nicht nur für die Abwehrspieler, sondern für die gesamte Organisation unseres Spiels.

SPIEGEL: Ist die Phase der attraktiven Spiele also vorbei? Wird von nun an der ernsthafte Fußball geprobt, der auch bei der Weltmeisterschaft gefragt sein wird?

Löw: Nein, wir wollen uns defensiv verbessern, ohne die offensiven Stärken zu verlieren. Das System verfeinern. Es muss am Ende sitzen wie ein paar alte Schuhe.

SPIEGEL: Aber »Kamikaze«, wie Torwart Oliver Kahn die spektakuläre, teilweise jedoch etwas naive Spielweise nannte, ist demnach out. War es ein gezielter Trick, mit der Verstärkung der Defensivarbeit erst nach jener Etappe zu beginnen, in der Sie das Publikum und die Medien hinter sich und das Team gebracht hatten?

Löw: Nein, das war kein Trick, sondern ist unsere absolute Überzeugung und Bestandteil unseres Konzepts. Alles ergab sich aus unserer Analyse der Europameisterschaft 2004. Wir haben gesagt: Die Spielweise muss generell verändert werden. Denn wir müssen bei der WM in der Lage sein, gegen defensiv gutsortierte Mannschaften Druck auszuüben, um zu Torchancen zu gelangen. Dazu ist es wichtig, möglichst schnell in die Gefahrenzone des Gegners zu kommen. Immer nur quer zu spielen ist nicht mehr zeitgemäß. Denn dann kann der Gegner sich wieder neu organisieren. Wir dürfen nicht zu viel Zeit brauchen für den Spielaufbau.

SPIEGEL: Früher galt es als Spielkultur, den Ball möglichst lange in den eigenen Reihen zu halten. Heute sagen Sie: schnell nach vorn mit ihm. Pragmatiker wie Bayern Münchens Coach Felix Magath meinen: Gar nicht der Trainer, sondern das Spiel bestimmt, wohin die Kugel läuft. Woher wissen Sie, was richtig ist?

Löw: Jeder Trainer hat seine Vorstellungen. Viele Wege führen zum Erfolg. Unser

Konzept gründet darauf, dass man die Offensive schulen kann, genauso wie man die Defensive schult. Auch im Spiel nach vorn muss es klare Vorgaben geben. Sonst wird es wirr. Es gibt da Grundsätze, etwa für die Laufwege der Stürmer. Wer denkt, dass die Brasilianer nur von ihren individuellen Stärken leben, dass ihr Angriffsspiel nur auf Kreativität beruht, der irrt.

SPIEGEL: Sie zaubern nach Plan?

Löw: Ich habe mir ihre Spiele vom Confederations Cup noch mal angeschaut. Die Brasilianer haben da Tore geschossen, die waren einstudiert. Und zwar tausendmal. Auch wir haben schon Tore erzielt, die das Ergebnis wiederholten Trainings waren.

SPIEGEL: Mittelfeldspieler Sebastian Deisler schlug vor, den Ball auch mal fünf Minuten zirkulieren zu lassen wie die Argentinier, um auf eine Chance zu warten. Wäre das nicht das Gegenteil dessen, was Klinsmann predigt?

Löw: Die Spieler sollen sich ruhig Gedanken machen. Und Sebastian hat ja recht, dass man in manchen Phasen den Ball mal anhalten muss, um das Spiel unter Kontrolle zu bringen oder zu halten. Wir müssen lernen zu erkennen, wann man den Spielrhythmus hochhält und wann man Tempo herausnehmen muss.

SPIEGEL: Wer entscheidet das auf dem Platz?

Löw: Da sind die Leader gefragt.

SPIEGEL: Ballack, Schneider?

Löw: Zum Beispiel. Und noch einmal: Wir wollen keineswegs unsere Offensivstärke verlieren oder vernachlässigen. Das Schwierige im Fußball ist, offensiv eindrucksvoll, aber defensiv stabil zu sein. Es gibt wenige Mannschaften, denen beides gelingt. Real Madrid hat es vergangene Saison nicht geschafft, der FC Chelsea kam diesem Ideal sehr nahe. Daran wollen wir arbeiten, denn beim Confederations Cup waren wir manchmal noch anfällig für Konter. Das kann man aber beheben.

SPIEGEL: Mit besserem Stellungsspiel?

Löw: Es ist in erster Linie das Vorausdenken, wenn das eigene Team am Ball ist. Einige beobachten nur das Spiel, und bei Ballverlust haben sie dann keine Orientierung, sie können nicht eingreifen.

SPIEGEL: Zum Spiel gegen die Holländer kehren der Dortmunder Christian Wörns und Dietmar Hamann vom FC Liverpool zurück, die viele Kritiker zu Symbolfiguren der gescheiterten EM-Mannschaft stempelten. Klinsmann und Sie haben den Beifall für den Verzicht auf diese Routiniers dankend angenommen. Aber wussten Sie nicht immer, dass Sie die Alten am Ende wieder brauchen würden?

Löw: Fünf, sechs der Neuen sind ja nun schon regelmäßig dabei und aus unserem Kader nicht mehr wegzudenken. Sie lassen wir wegen Wörns und Hamann doch nicht fallen.

SPIEGEL: Wenn Wörns spielt, wird einer der jungen Innenverteidiger nicht spielen.

Löw: Möglich. Robert Huth fehlt ja auch noch Spielpraxis, weil in England die Saison später angefangen hat.

SPIEGEL: Wie soll er denn im Starensemble von Chelsea,

in dem er schon letzte Saison kaum zum Zuge kam, genügend Spielpraxis bekommen, um ein WM-Kandidat zu bleiben?

Löw: Robert muss sich bei Chelsea über Topleistungen im Training für einen Platz in der Mannschaft empfehlen - was schwer wird. Beim Confederations Cup hat man gesehen, dass er mit jedem Spiel besser geworden ist. Daran merkt man, dass er Spielpraxis auf hohem Niveau braucht. Er hat enormes Potential.

SPIEGEL: Worin besteht das?

Löw: Hohe Schnelligkeit, Kopfballstärke. Und er ist geschickt im Zweikampf.

SPIEGEL: Sie haben den Spielern Hausaufgaben mitgegeben. Was erhoffen Sie sich von den Zusatzschichten, die sie neben dem Vereinstraining zweimal in der Woche absolvieren sollen?

Löw: Heute muss ein Spieler über 90 Minuten hochkonzentriert sein. Wenn zwei, drei kräftemäßig nachlassen, schwindet die Konzentration - und es passieren Fehler. Ein Fehler kann aber bei der WM das Aus bedeuten. Deshalb muss die körperliche Basis im Idealzustand sein. Wenn ich Weltmeister werden will, muss ich damit jetzt beginnen. Die Spieler sollen sich fragen: Wie kann ich jeden Tag ein bisschen besser werden? Das wollen wir ihnen vermitteln.

SPIEGEL: Das klingt nach einem missionarischen Ansatz.

Löw: Das können Sie interpretieren, wie Sie wollen. Wir wollen die Spieler auch neben dem Platz begleiten, ihnen auch fürs Leben gewisse Werte und Verhaltensweisen vermitteln. Es geht um Gesundheit, Regeneration, Ernährung. Und auch um andere Dinge, die uns wichtig sind, die die ganze Karriere betreffen.

SPIEGEL: Nämlich welche?

Löw: Mich persönlich widern zwei Dinge unglaublich an. Wenn jemand unprofessionell ist - oder wenn er arrogant ist, selbstgefällig gegenüber Mitspielern, Mitmenschen, Fans oder Medienvertretern. Nehmen Sie das Beispiel Ailton. Der bekommt bei Schalke 04 jede Aufmerksamkeit und Zuneigung, dazu viel Geld. Dann geht er nach Istanbul, zu einem Verein, der ihm noch mehr zahlt.

SPIEGEL: Ja und?

Löw: Ich kenne aus meiner Trainerzeit dort die türkische Mentalität und weiß, welche Hoffnungen die Leute in den Spieler setzen. Kaum hat er den Vertrag unterschrieben, haut er ab nach Brasilien, ignoriert alle Terminabsprachen, kommt erst drei Tage vor dem ersten Spiel zurück. Und beschwert sich noch, dass er nicht eingesetzt wird. Wir wollen unseren jungen Spielern klar machen: zu glauben, etwas Besonderes zu sein, ist falsch. Die Profis müssen zurück zu einer gewissen Dankbarkeit, zu Demut und Bescheidenheit.

SPIEGEL: Glauben Sie im Ernst, dass Sie die Profis zu besseren Menschen erziehen können? Oder akzeptieren die nicht eher Ihren Verhaltenskodex genau so lange, wie Sie und der Bundestrainer über ihre Teilnahme an der WM befinden können?

Löw: Wir sind nicht ihre Erziehungsberechtigten. Aber wir sehen es als unsere Aufgabe an, ihnen zu vermitteln, dass neben dem Fußball noch andere Dinge wichtig sind: Disziplin, Ehrlichkeit, Offenheit, respektvoller Umgang untereinander und nach außen. Bei der Auswahl der Spieler ist das ein wichtiges Kriterium: Wer ist teamorientiert, wer ist charakterstark?

SPIEGEL: Haben Sie schon einmal aus charakterlichen Gründen von der Nominierung eines Spielers abgesehen?

Löw: Nein, bisher nicht.

SPIEGEL: Für das Holland-Spiel verzichten Sie auf den Kölner Jungstar Lukas Podolski, der mit einem täglichen Medienhype um seine Person zu kämpfen hat. Machen Sie sich Sorgen um ihn?

Löw: Er muss manche Dinge einschränken. Das müssen ihm sein Verein, seine Familie, sein Berater erklären. Ich finde es ja positiv, dass er mit seinem Auftreten so gut in der Öffentlichkeit ankommt: Er sucht den Kontakt zu den Fans, geht immer freundlich auf die Leute zu. Aber er muss jetzt lernen, die wichtigen von den unwichtigen Terminen zu unterscheiden und einiges wegzulassen. Er darf das Wesentliche nicht aus den Augen verlieren: absolute Konzentration auf den Fußball und hart arbeiten.

SPIEGEL: Oliver Kahn steht gegen die Holländer im Tor, das Wechselspiel mit seinem Konkurrenten Jens Lehmann geht aber weiter. Klinsmann will die WM-Torwartfrage bis Mai offen halten. Warum?

Löw: Bislang haben beide Torhüter von dem Konkurrenzkampf um die Nummer eins profitiert. Beide sind in ihren Leistungen stabiler geworden, im Training strahlten sie eine ungeheure Energie aus. Ich meine aber, wir müssen rechtzeitig entscheiden.

SPIEGEL: Wann?

Löw: So frühzeitig, dass beide Torhüter sich auf die Situation einstellen können. Denn wir müssen am Ende auch dem Unterlegenen klar machen, welche Aufgaben er als Nummer zwei hat. Wir erwarten eine klare Aussage, ob er bereit ist, alles für den Erfolg des Teams zu tun. Wenn einer sich nicht auf die Bank setzen will, ist das Thema schnell erledigt.

SPIEGEL: Klinsmann will erst nach der WM über eine Vertragsverlängerung entscheiden. Ist Ihre Zukunft davon abhängig?

Löw: Wir haben immer gesagt, dass wir an der sportlichen Entwicklung gemessen werden wollen. Alles ist erst mal auf die WM ausgerichtet. Ich meine aber, der Jürgen und ich werden uns sicher etwas früher mal darüber unterhalten, wie die Tendenz ist. Wir sind ja der Meinung, dass wir eine entwicklungsfähige Mannschaft haben, die 2006 vielleicht noch gar nicht voll ausgereift ist, sondern womöglich erst 2010.

SPIEGEL: Damit Deutschland 2010 in Südafrika nicht ohne Sie und Klinsmann Weltmeister wird, müssten Sie Ihren Chef zum Weitermachen überreden. Oder werden Sie 2006 sein Nachfolger?

Löw: Ich persönlich fände es gut, in dieser Konstellation weiterzuarbeiten. Es ist zu früh, konkreter darüber zu sprechen. Bisher hat es in dem Team jedenfalls Spaß gemacht.

SPIEGEL: Herr Löw, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

Joachim Löw

war von 1978 bis 1989 Profi in der ersten und zweiten Bundesliga, gewann bei seinem ersten Job als Chefcoach mit dem VfB Stuttgart gleich den DFB-Pokal und führte das Team ins Europacup-Finale. Danach trainierte er in der Türkei und in Österreich, wurde Meister mit dem FC Tirol. Bundestrainer Jürgen Klinsmann holte Löw, 45, als taktischen Ratgeber und für die Trainingsarbeit in seinen Stab.

Das Gespräch führten die Redakteure Jörg Kramer und Alfred Weinzierl. * Beim 3:2 gegen Deutschland im Confederations Cup am 25. Juni in Nürnberg. * Mit dem Niederländer Rafael van der Vaart beim 1:1 im EM-Spiel am 15. Juni 2004 in Porto.

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