Wie Schiebewind
Langer als zehn Jahre mischte Karl Adam, der erfolgreichste Rudertrainer der Welt, in Ratzeburg nach seinem Rezept Taktik und Training der deutschen Goldachter. Doch 1971 probt das Flaggschiff der deutschen Ruderflotte erstmals wieder unter einem Adam-Konkurrenten.
»Deutschland-Achter finde ich zu großspurig«, wehrte der Adam-Nachfolger Siegfried Kuhlmey-Becker, 43, ab. Der Trainer hält sein Boot mit Ruderern aus Essen, Emden und Worms für den Verbandsachter des Deutschen Ruderverbandes (DRV). Am kommenden Wochenende startet der bislang unbesiegte Achter in Amsterdam gegen den schnellsten Rivalen, die DDR.
Seit den fünfziger Jahren hatte der Ratzeburger Oberstudienrat Adam die Ruderwelt reformiert, Von den Leichtathleten übernahm er das Intervall-Training und ließ statt der 2000-Meter-Renndistanz Teststrecken von etwa 600 Metern immer wieder -- in Intervallen -- rudern.
Dann führte er das Krafttraining ein. Auch das Ausdauertraining übertrug er auf die Ruderei: Etwa 20 Kilometer legten die Ruderer im Boot zurück.
Zugleich entwickelte Adam neue Ideen für Boote und Ausrüstung. Der Möllner Bootsbauer Wilhelm Karlisch entwarf für ihn einen Achter, der statt 145 nur noch 105 Kilo wog. Jüngst ließ er an den Stemmbrettern für jeden Athleten maßgefertigte Ruderschuhe anbringen, damit beim Vor- und Zurückrollen niemand mehr abrutscht.
Dazu mobilisierte Adam Energie-Reserven durch angewandte Psychologie. Er ließ seine Ruderer über das Training mitbestimmen. Zur Leistungssteigerung weckte er versteckte Aggressionen: Im Goldachter von 1960 herrschte »absolute Funkstille zwischen Vorder- und Achterschiff« (Olympiasieger Moritz von Groddeck). Aber die rivalisierenden Besatzungsmitglieder wollten sich nun gegenseitig übertrumpfen.
1968 machte sich Adam durch Vorwürfe gegen seine Trainingsgemeinschaft selbst zum Aggressionsziel. Nun wollte die Crew beweisen, wie unrecht er gehabt habe.
Von 1960 bis 1968 ruderten Adams Achter zu zwei Olympiasiegen und einer Silbermedaille, in den Zwischenjahren siegten sie bei Welt- und Europameisterschaften. Stets drängten die besten Ruderer der Bundesrepublik in Adams Boote.
Die über mehrere Städte verstreuten Achter-Ruderer konnten aber nur am Wochenende auf dem Ratzeburger Küchensee in einem Boot trainieren. In der DDR und der Sowjet-Union wohnten und arbeiteten die Ruderer eines Achters längst zusammen an einem Ort. Bei der Weltmeisterschaft 1970 fuhr der Deutschland-Achter deshalb erstmals seit zwölf Jahren an einer Medaille vorbei. Dagegen spurtete der Ruhr-Vierer des Trainers Kuhlmey-Becker unerwartet zur Silbermedaille.
Nun vertraute der Verband auch sein Paradeboot dem Trainer Kuhlmey-Becker in Essen an: Er war 1953 selbst im Achter Deutscher Meister geworden und hatte als Trainer im Vierer ohne Steuermann schon ein Europa- und ein Weltmeisterboot herausgebracht.
Neue Siege, hatten Trainer und Funktionäre erkannt, setzen Rudergemein. schaften voraus, die täglich zusammen trainieren. Ratzeburg bietet jedoch nicht genügend passende Arbeits- und Studienmöglichkeiten -- anders der Ruhrpott. Schlagmann Wolfgang Schäfer und Thomas Hitzbleck gehören der Essener Fördergruppe der Bundeswehr für Wassersportler an. Drei Besatzungs-Mitglieder studieren, einer arbeitet als Bankkaufmann, einer als Druckerei-Ingenieur. Alle wohnen in Essen.
Vereins-Querelen hatten verhindert, daß zwei Dortmunder Ruderer mit ins Boot kletterten. Während der neue Achter unterhalb der Kruppschen Villa Hügel »etwas abweichend vom Ratzeburger Muster« (Kuhlmey-Becker) an Harmonie und Technik feilte, bildeten die Dortmunder zusammen mit Hanauer Ruderern einen Rebellen-Achter. Adam erbot sich als Trainer.
»Die Angriffe auf unseren Achter und die Rivalität«, begrüßte Kuhlmey-Becker die Konkurrenz, »wirkten wie günstiger Schiebewind.« Zwar besiegte der Essener Achter das von Adam durch Ferntraining gesteuerte Rivalen-Boot in bisher fünf Rennen, aber einmal ruderte sich Adams Achter schon bis auf knapp zwei Sekunden heran.
Alle 14 Tage jedoch zieht der Essener Achter nach Ratzeburg in Adams Ruder-Akademie zum Wochenend-Training um. Zuletzt trainierte er dort gemeinsam mit dem Konkurrenz-Achter.
»Umbesetzungen«, gestand Kuhlmey-Becker zu, »sind bis zu den olympischen Rennen 1972 nicht ausgeschlossen.«