SPRINGREITEN Wieder knack
Der Patient ächzte vor Schmerzen. Helfer mußten ihn festhalten, während ihm der Masseur einen Wirbel einrenkte. Vier Tage später schwang sich der Rollstuhlinsasse in den Sattel und ritt ein schweres Springen mit.
Das labile Rückgrat schmerzt und peinigt das ganze deutsche Reitervolk: Denn es soll Alwin Schockemöhle, 34, stützen, den seit Jahren erfolgreichsten deutschen Springreiter. Längst haben Fans und Fachleute den berittenen Unternehmer der Baustahlbranche (Jahresumsatz: 20 Millionen Mark) in ihre Medaillen-Hochrechnungen für die Olympischen Spiele 1972 eingefüttert. Nun schwankt sein Goldkurs.
»Plötzlich machte es wieder knack«, hatte Schockemöhle während des Internationalen Turniers in Rom Anfang Mai gemeldet, nachdem er mit seinem Wallach Wimpel hinter einem Hindernis hart gelandet war. Mit ausgeklinktem Wirbel war er zu Ende geritten. Dann kutschierten ihn Freunde ins Krankenhaus.
Den steigenden Belastungen des Spitzensports hält nicht jedes Rückgrat stand. Erfolgreiche Turnierreiter starten immer häufiger über immer höhere Hindernisse. Schockemöhles Hochsprung-Bestleistung auf Exakt steht bei 2,25 Meter.
Nicht immer können die Springreiter bei der Landung Stauchungen vermeiden. Eine zusätzliche Verdrehung erhöht die Gefahr. So knackste der Schockemöhle-Wirbel in Rom, als der Reiter über dem zweiten Hindernis den Kurs seines Pferdes verändern wollte. Ähnliche Rückenverletzungen plagten viele Stars wie Europameister Graziano Mancinelli. Kranke Rücken gehören zum Reiter-Risiko.
Aber selten dämpften die Bandscheiben-Schäden den reiterlichen Ehrgeiz. Dem schwerverletzt aus dem Ersten Weltkrieg zurückgekehrten Gutsherrn Carl Friedrich Freiherr von Langen-Parow hatten die Ärzte das Reiten strikt verboten. 1928 siegte er in der Olympia-Dressur. Der Ufa lieferte er im Dritten Reich das Muster für den Propagandafilm »... reitet für Deutschland«.
Während des ersten Umlaufs im Preis der Nationen beim Reiter-Olympia 1956 hatte sich Hans Günter Winkler eine schmerzhafte Leistenzerrung zugezogen. Ein Verzicht hätte die deutsche Equipe gesprengt. Winkler ritt unter Schmerzen den zweiten Umlauf, litt sich zur Goldmedaille in der Einzelwertung durch und sicherte zugleich den Sieg im Mannschafts-Preis.
Bei Winkler in Warendorf lernte auch Alwin Schockemöhle den Umgang mit Klötzen -- wie die Reiter ihre Hindernisse nennen. 1960 in Rom ritt er schon mit Winkler und dem Elmshorner Fritz Thiedemann zum Olympiasieg. Zugleich verband er Klötzchen und Kommerz und gründete einen Turnierstall, dem etwa 30 Pferde angehören. Er kaufte Nachwuchspferde günstig ein, ritt sie zu und verkaufte sie nach preissteigernden Erfolgen wieder. Für das Pferd Ferdl bezahlte er 2100 Mark, an Preisgeldern brachte es ihm mehr als 100 000 Mark ein.
Aber der Turnierstall kostet ihn jährlich ungefähr 120 000 Mark. So suchte sich Schockemöhle aus dem Veranstaltungs-Kalender die vielversprechendsten Wettbewerbe heraus. Schockemöhle bestritt an einem Turnier-Nachmittag vier Ritte und mehr. Seine springtüchtigsten Pferde verdienten durch Preise den Unterhalt für die Anlernlinge mit.
So sammelte er mehr als 500 Sieger. schleifen und drei deutsche Meistertitel, gewann zweimal das Deutsche Springderby und placierte sich fünfmal bei Europameisterschaften unter den besten drei Reitern.
Da stürzte er im Finale der Europameisterschaft 1966 von seinem Pferd Athlet. Zum erstenmal knackte sein Wirbel. Das Rückenleiden erwies sich als chronisch. Dreimal seither schafften Freunde den vom Schmerz Halbgelähmten ins Krankenhaus. Zwischen verrutschten Bandscheiben eingeklemmte Nerven peinigten den Reiter. Zuletzt pausierte er ein halbes Jahr bis zum März.
»Ich lebe von der Pille, klagte er, »nicht zur Heilung, sondern gegen den Schmerz« Ärzte rieten zur Operation. Die Heilungs-Chance beträgt 50 Prozent. Deshalb lehnte Schockemöhle ab.
Inzwischen sprang sich sein Bruder Paul mit den besten seiner 30 eigenen Pferde in die Spitzengruppe und siegte in vier Großen Preisen. Bruder Paul betreibt die größte europäische Eierfarm (Jahresumsatz: 80 Millionen Mark). Weil Alwin Schockemöhle mit krankem Wirbel in eine Mailänder Spezial-Klinik einzog, rückte Paul in die deutsche Equipe nach und siegte mit ihr im ersten Nationenpreis des Jahres.
»Nur über meine Leiche«, entschied Equipenchef Helmut Krah, als sich Alwin Schockemöhle aus Mailand wieder startbereit meldete. Am letzten Turniertag ritt er trotzdem wieder. Denn die Placierungen von Rom zählten zugleich zur Qualifikation für die bevorstehende Europameisterschaft. Schockemöhle möchte seinen Rivalen Winkler übertreffen und in München an den Olympischen Spielen teilnehmen.
»Lassen Sie mal, wenn Sie nicht können«. wehrte er ärztlichen Rat ab, da Springen aufzugeben. Fachleute und Funktionäre wägen nun das Risiko einer neuerlichen Wirbel-Verletzung, womöglich auf dem Olympia-Parcours. Das würde die Chance der Bundes-Equipe schmälern. Schockemöhle: »Daran darf und will ich nicht denken.«