Olympischer Eisschnelllauf Silber-Steffi beerbt Gold-Gunda

Vancouver/Whistler - sitzt zu Hause vor dem Fernseher, Anni Friesinger-Postma steht hinter der Bande im Richmond Oval und liegt neben dem Eisoval in Vancouver auf dem Rücken, sie atmet schwer. Ihr Trainer hat sich über sie gebeugt. Es sieht aus wie ein Wiederbelebungsversuch.
Ein paar Meter entfernt steht . Sie lacht und telefoniert mit ihren Eltern in Erfurt.
Was hier nach dem 5000-Meter-Rennen der Eisschnellläuferinnen zu beobachten ist, sieht wie das Ende einer Ära aus und der Beginn einer neuen.
Beckert, 21, hat gerade ihre zweite Silbermedaille bei diesen Spielen gewonnen, Anschütz-Thoms, 35, ist zum zweiten Mal Vierte geworden. Zwei Hundertstel Rückstand waren es über 3000 Meter, jetzt fast drei Sekunden. 14 Jahre liegen zwischen beiden Frauen. Die eine hat zwei zweite Plätze bei ihrem Olympiadebüt geholt, die andere ist ihrem Traum von einer Olympischen Einzelmedaille vergeblich hinterhergelaufen. Zehn Jahre lang.
Anschütz-Thoms gewann 2006 mit Anni Friesinger und Gold in der Teamverfolgung. Es war der letzte große Triumph für das deutsche Eisschnelllaufen und das vorläufige Ende einer sagenhaften Erfolgsgeschichte. Seit 1980 hatte es immer mindestens einmal Gold gegeben, diesmal rettet allein Beckert die Bilanz. Friesinger fällt vor allem durch Mäkelei auf, Pechstein ist gesperrt wegen des Verdachts auf Blutdoping, was sie stets bestritten hat. Und Anschütz-Thoms liegt fassungslos neben der Strecke.
Nur ein Platz auf dem Podium komme für sie in Frage, hatte Anschütz-Thoms vor den Spielen jedem gesagt, der es hören wollte. Bei der WM vor einem Jahr an gleicher Stelle war sie sowohl über 3000 als auch 5000 Meter Fünfte geworden. Vielleicht war der Druck zu groß, den die dritte im Bunde der Glorreichen sich selbst gemacht hatte. "Das hier war mein bestes Rennen dieses Jahr und trotzdem muss ich mit dem vierten Platz zufrieden sein", sagt Anschütz-Thoms.
Dabei scheint es in Vancouver eines der Erfolgsgeheimnisse zu sein, ohne Erwartungen in ein Rennen zu gehen. "Ich will die 5000 Meter genießen und werde dann sehen, was dabei herauskommt", hatte Beckert vor dem Wettkampf erklärt. "Um ehrlich zu sein: Ich wollte hier nicht unbedingt eine Medaille. Ich wollte einfach gut laufen, es war egal, was am Ende herauskommen würde", sagte Clara Hughes aus Canada, die nach Salt Lake City (Silber) und Turin (Gold) ihre dritte Olympiamedaille im Einzel holte. Diesmal Bronze.
Beckert läuft mit der Leichtigkeit der Jugend, sie war ohne Erwartungen nach Vancouver gereist und steht plötzlich als die Retterin des deutschen Eisschnelllaufens da. Die zurückhaltende Frau nimmt das hin, obwohl sie gar nicht in diese Rolle passt. Für Beckert, die sich tagein tagaus allein ihrem Sport hingibt, muss der ganze Rummel vor allem eins sein: Ablenkung vom Wesentlichen. In ihrem Zimmer hängt ein Poster von Gunda Niemann-Stirnemann.
Beckert und Niemann-Stirnemann - Schwestern im Geiste
"Gold-Gunda" nannte man Niemann-Stirnemann, weil sie elfmal Einzelweltmeisterin und dreimal Olympiasiegerin wurde. Eine Ansage an die Tschechin Martina Sablikowa sei Beckerts Rennen über 5000 Meter gewesen, sagt die heutige ZDF-Expertin über ihre Nachfolgerin. Beckert habe Sablikowa gezeigt, "dass sie schlagbar ist". Auch Niemann-Stirnemann war das Superstar-Theater oft unangenehm, beide sind Schwestern im Geiste. Beckert bleibt zunächst "Silber-Steffi", aber immerhin. Niemann war 26, als sie 1992 ihr erstes Olympia-Gold gewann.
Noch ist Sablikowa, Weltrekordlerin über 5000 Meter und in Vancouver Doppelolympiasiegerin, das Maß aller Dinge. Auch Beckert erkennt das an. "Es war zwar am Ende ganz knapp, aber ich bin überglücklich mit meiner Silbermedaille, und Martina ist einfach wieder unglaublich gut gelaufen." Doch auch die Tschechin hat längst erkannt, dass es eine gleichwertige Konkurrentin gibt. Auf der Pressekonferenz nach den 3000 Metern überschüttete sie Beckert mit Lob und bezeichnete die Deutsche auch für die 5000 als ihre schärfste Rivalin.
Nach ihrer Silbermedaille hatte Beckert aber auch Anschütz-Thoms nicht vergessen. Beide sind Teamkolleginnen, und ohne die 14 Jahre Ältere wäre sie nicht hier. "Das Training mit ihr hat mich so weit gebracht", sagt Beckert. Da hatte sich die Laune Anschütz-Thoms' auch schon wieder gebessert. "Ich freue mich auf eine weitere Medaillenchance mit meinem Team", sagt sie.
Mit Friesinger-Postma in der Teamverfolgung
In der Teamverfolgung am Samstag (ab 23.15 Uhr, Liveticker SPIEGEL ONLINE) tritt sie mit Beckert zusammen an - und Anni Friesinger-Postma. Die ehemalige Eiskönigin profitiert vom schwachen Lauf Katrin Mattscherodts über 5000 Meter. "Die Tendenz geht jetzt zu Anni. Katrins Lauf war einfach nicht gut genug. Außerdem hat mir Anni im Training sehr imponiert", erklärte Bundestrainer Markus Eicher.
Beckert, Anschütz-Thoms, Friesinger-Postma, was für ein Team. Die Zukunft des deutschen Eisschnelllaufens hat zwei Silbermedaillen, die Vergangenheit hat Doppelnamen. Zumindest Ersteres soll sich am Freitag ändern.