
Fotostrecke: Ein Überflieger schafft den Absprung
Ex-Skispringer Thomas Morgenstern "Die Angst hat mich ausgesaugt"

Thomas Morgenstern, 29, geboren in Kärnten, gewann 23 Weltcup-Springen und in der Saison 2010/2011 die Vierschanzentournee. Bei den Olympischen Spielen 2006 in Turin holte Morgenstern die Goldmedaille auf der Großschanze. Nach mehreren Stürzen beendete er im September 2014 seine Karriere. In seinem Buch "Über meinen Schatten" beschäftigt er sich mit dem Thema Angst im Leistungssport.
SPIEGEL ONLINE: Herr Morgenstern, am Montag beginnt die Vierschanzentournee mit dem Springen in Oberstdorf. Würde Sie so ein Wettbewerb noch mal reizen, oder sind Sie einfach nur froh, nicht mehr hoch auf den Balken zu müssen?
Morgenstern: Ich habe da gemischte Gefühle, die Tournee ist das Größte für Skispringer. Die Anlage in Bischofshofen war meine Lieblingsschanze, da sitzt du vor 30.000 Zuschauern und tauchst in ein rot-weiß-rotes Fahnenmeer ein. Das ist ein Gefühl, das du mit keinem Geld der Welt kaufen kannst. Das vermisse ich. Wenn aber das Springen in Kuusamo im Fernsehen läuft, dann kribbelt es nicht mehr so. 2010 bin ich dort schwer gestürzt, die Bedingungen waren in Kuusamo immer schwierig, es gab viel Wind. Wenn die Jungs jetzt dort springen, bin ich froh, auf der Couch zu sitzen.
SPIEGEL ONLINE: Vor 15 Monaten haben Sie Ihren Rücktritt verkündet. Sie waren 27 Jahre alt, körperlich fit. Warum wollten Sie aufhören?
Morgenstern: Die Saison 2013/2014 war schlimm für mich. In Titisee-Neustadt bin ich gestürzt, dabei brach ich mir den Finger. Beim Skifliegen am Kulm in Bad Mitterndorf erwischte es mich noch schwerer: Ich verlor nach dem Absprung das Gleichgewicht, prallte auf den Hang, ich zog mir eine Schädelverletzung zu und eine Lungenquetschung.
SPIEGEL ONLINE: Trotzdem waren Sie ein paar Wochen später bei den Olympischen Spielen in Sotschi am Start.
Morgenstern: In einer Klagenfurter Privatklinik haben die Ärzte das Nötigste an mir zusammengeflickt. Eine Psychologin hat mir geholfen, mit meinem Trauma umzugehen, die Stürze zu verarbeiten. Kurzfristig hat das gut geklappt.
SPIEGEL ONLINE: Und langfristig?
Morgenstern: Nach Sotschi war die Saison erst mal vorbei. Zum Glück. Im Juli habe ich wieder angefangen mit den ersten Sprüngen. Zuerst auf 90-Meter-Schanzen, dort fühlte ich mich noch sicher. Im September ging ich zum Training auf die Großschanze nach Innsbruck. Das hat alles verändert.
SPIEGEL ONLINE: Inwiefern?
Morgenstern: Das Springen wurde für mich plötzlich total kräftezehrend, ich habe in einer Einheit vier, fünf Sprünge gemacht, danach war ich platt. Ich musste vor jedem Sprung meine Angst vor einem Sturz überwinden. Das hat mich viel Energie gekostet, psychisch und körperlich. Eine leichte Sprungeinheit war anstrengender als jedes Krafttraining. Die Angst hat mich richtig ausgesaugt.
SPIEGEL ONLINE: Um weit zu fliegen, müssen sich Skispringer in der Luft extrem nach vorn beugen. Sie suchen den Grenzbereich, in dem sie kaum Luftwiderstand haben, aber trotzdem noch von der Luft getragen werden. Ein kleiner Wackler genügt, dann reißt die Luftströmung ab.
Morgenstern: Genau das ist mir in Innsbruck wieder passiert. Bei einem Sprung kam etwas Wind auf, es hat mich in der Luft wieder ein bisschen zerfleddert. Ich konnte den Sprung gerade noch stehen. Im Auslauf habe ich mich auf den Boden gesetzt, ich dachte: Es kann doch nicht sein, dass Stürze und erfolgreiche Sprünge bei dir so nahe beieinander liegen. In dem Moment wurde mir klar: Das war ein Zeichen, lass es sein, Junge.
SPIEGEL ONLINE: Sie waren zwölf Jahre lang Profisportler, wurden Olympiasieger und Weltmeister. Und dann haben Sie innerhalb von einer Sekunde Ihre Karriere beendet?
Morgenstern: Ja. Ich bin mit dem Lift hochgefahren, habe mich umgezogen. Dann habe ich den Trainern Bescheid gesagt und bin heim.
SPIEGEL ONLINE: Hat die Arbeit mit der Psychologin nicht geholfen?
Morgenstern: Doch, sehr sogar, sonst hätte ich in Sotschi nie an den Start gehen können. Aber so ein Erlebnis auf Dauer aus dem Kopf zu kriegen, ist extrem schwierig. Stellen Sie sich vor, Ihnen platzt auf der Autobahn bei Tempo 150 ein Reifen. Würden Sie an derselben Stelle nochmals mit 150 vorbeirauschen?
SPIEGEL ONLINE: Wahrscheinlich nicht.
Morgenstern: Die Angst hat mich gehemmt, ich konnte keine Höchstleistung mehr bringen. Im Sport geht es um Platz eins bis drei, nicht um Rang 15.
SPIEGEL ONLINE: Hatten Sie früher in Ihrer Karriere auch solche Probleme?
Morgenstern: Überhaupt nicht, ich bin immer total unbekümmert an die Schanze gegangen. Ich war ein risikofreudiger Mensch, habe viel ausprobiert. Ich fühlte mich unverwundbar. Nicht falsch verstehen: Ich bin kein Hosenscheißer geworden, aber ich wäge heute sehr genau ab, welches Risiko ich eingehen kann.
SPIEGEL ONLINE: Sie machen zurzeit eine Ausbildung zum Piloten und nehmen im Hubschrauberfliegen an Wettbewerben teil. Begeben Sie sich nicht genau in die Situationen, aus denen Sie raus wollten?
Morgenstern: Das klingt gefährlich, ja, aber die Fliegerei ist die sicherste Art der Fortbewegung. Ich warte den Hubschrauber, mache überall und immer Checks, bereite mich auf die Flüge und Wetterbedingungen vor. Wenn ich das mache, wird mir auch nichts passieren. Beim Skispringen gab es immer ein Restrisiko, das ich nicht beeinflussen konnte.
SPIEGEL ONLINE: Leistungssportler sind nicht gerade bekannt dafür, über ihre Ängste zu sprechen.
Morgenstern: Ich habe kein Problem damit. Ich habe Stürze erlebt, und ich hätte dabei sterben können. Natürlich habe ich das Recht, meine Angst zu äußern. Ich würde mich unglaubwürdig machen, wenn ich sagen würde: Mir geht das alles am Hinterteil vorbei.
SPIEGEL ONLINE: Sind Sie stolz auf Ihren Entschluss?
Morgenstern: Ja, weil es die schwierigere Entscheidung war als weiterzumachen. Ich wäre im Weltcup nur noch unter die Top 20 gekommen, weil ich immer auf Sicherheit gesprungen wäre. Das hätte mir keine Freude mehr gemacht. Ich habe meine Entscheidung nie bereut.
SPIEGEL ONLINE: Schätzen Sie das Leben ohne Leistungssport?
Morgenstern: Sehr, ich habe keinen Druck mehr. Das ist das Schönste. Ich kann den Tag einfach passieren lassen. Ich muss nicht mehr 24 Stunden lang überlegen, wie ich besser werden kann. Hier verzichten, dort verzichten, es ist ein Fulltime-Job, und viele Dinge leiden darunter, die Familie und die Freunde.
SPIEGEL ONLINE: Ihr früherer Teamkollege Gregor Schlierenzauer hat kürzlich eine Wettkampfpause eingelegt. Es heißt, ihm sei die Freude am Springen abhandengekommen. Können Sie ihn verstehen?
Morgenstern: Ich kann seinen Schritt nachvollziehen. Ich war selbst in meiner vorletzten Saison in einer ähnlichen Situation. Damals war ich über meinem Limit und brauchte eine Pause. Manchmal ist es wichtig, etwas Abstand zu bekommen. Wenn man wie Gregor erfolgsverwöhnt ist, muss man lernen, damit umzugehen, wenn es nicht läuft. Für einen Leistungssportler ist das schwer, vor allem, wenn man perfekt sein will. Nach seiner Pause wird Gregor jetzt wieder an der Vierschanzentournee teilnehmen, und ich hoffe, dass es der richtige Schritt für ihn war. Nur er selbst weiß, was am besten für ihn ist.
SPIEGEL ONLINE: Sie haben die Vierschanzentournee 2010/2011 gewonnen. Was gehört dazu?
Morgenstern: Du brauchst einen guten Start, in Oberstdorf gewinnst du die Tournee nicht, aber du kannst sie verlieren. Dann brauchst du viermal faire Bedingungen auf der Schanze, Wind und Wetter müssen für alle gleich gut sein. Und du musst im Flow sein, damit du mit der breiten Brust antreten kannst.
SPIEGEL ONLINE: Und wer hat die gerade?
Morgenstern: Mein Favorit für den Tourneesieg ist Peter Prevc. So wie er gerade springt, erinnert er mich an eine Phase in meiner Karriere, wo mir alles leichtfiel. Ich hab Springen für Springen gewonnen und wusste nicht mal genau, warum. Das hast du nicht oft im Leben.