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»Wir müssen mitbetrügen«

Von Hans-Joachim Noack
aus DER SPIEGEL 41/1992

Im Amtsgericht Hamburg, Verhandlungssaal 297, hat sich ein notorischer Schwarzfahrer zu verantworten. Für den Vorsitzenden ist das Laufkundschaft, eine Bagatelle; er kennt den Angeklagten. Aufgekratzt weist er seinen Wachtmeister an, »den Pappenheimer« hereinzuholen, doch der hält vergebens nach dem Beschuldigten Ausschau.

Das verändert die Lage natürlich. Energisch strafft der Richter Harm Beyer, 56, die Brust und streicht die Robe glatt. Eisig blicken die bemerkenswert blauen Augen, und mit einer Stimme wie aus Metall erläutert er vor einer Schulklasse, die sich im Zuschauerraum versammelt hat, die verbleibenden Möglichkeiten.

Er könnte - »ad eins« - den Delinquenten polizeilich vorführen lassen, was ihm aber »angesichts des riesigen Aufwands, ihn auch schnellstens beizubringen«, als indiskutabel erscheint. Nein, das will er nicht; er vertagt den Fall und entscheidet, »zu zwo«, auf Haftbefehl. Denn der Richter Harm Beyer, der die sprunghaft angestiegene Kleinkriminalität unter den Buchstaben M bis O bearbeitet, ist ein »autoritärer Typ«. Der möchte »die Spielregeln« gewahrt wissen: »Dem Gesetz ist Genüge zu tun«, sagt er feierlich.

Doch dann verflüchtigt sich seine Wut, und der Zurschaustellung gekränkter Amtswürde folgt nun fast im Kumpelton die »nötige Nachbetrachtung«. Was soll »der Quatsch«, einen xbeliebigen Schwarzfahrer derart zur Rechenschaft ziehen zu müssen! »Vorschriften, die nur so zu realisieren sind«, klärt er die Gymnasiasten aus Eidelstedt auf, gehörten als Straftatbestand »besser abgeschafft«. Wäre der exzentrische Hanseat bloß ein Organ der Rechtspflege mit lokaler Reichweite, seine Pendelschläge könnten als der übliche Frust eines »Nullachtfuffzehn-Amtsrichters« (Beyer über Beyer) abgetan werden.

Aber das ist er ja nicht. Er bezieht seine Bedeutung und das damit einhergehende Selbstwertgefühl aus der Nebentätigkeit, einer der bekanntesten deutschen Sportfunktionäre zu sein.

Dem einen Teil seines Naturells, das Sitte und Ordnung zu wahren sucht, verdankt das Präsidiumsmitglied des Welt-Schwimmverbandes ein anhaltend lädiertes Image. In das öffentliche Bewußtsein geradezu eingebrannt hat sich jenes Bild aus Barcelona ''92, als ihn die Olympiasiegerin Dagmar Hase via TV schluchzend der »Frechheit« zieh.

Beyer, seinerzeit noch Anti-Doping-Beauftragter der deutschen Wassersportler, hatte deren Freundin Astrid Strauß wegen des Verdachts der verbotenen Testosteron-Aufnahme zielstrebig verfolgt und aus dem Kader verbannt. Da sei er als »die Schreckgestalt des häßlichen, doofen Apparatschiks« durch die Gazetten gezerrt worden, grämt sich der vermeintliche Saubermann noch heute - aber heute läuft ja alles umgekehrt.

Biblisch gesprochen, widerfuhr dem berüchtigten Schnüffler inzwischen ein tiefgreifendes Saulus-Paulus-Erlebnis. Der unerbittliche Ankläger in Sachen Anabolika-Konsum (der sich trotz allem fernsehsüchtig in Sichtweite der Medaillengewinner hielt), übt sich nun ebenso strikt in die Rolle des Verteidigers ein. Mit dem Eifer des Konvertiten schwingt er sich zu Vergleichen auf, die für einen Richter starker Tobak sind.

Passe die vormaligen Skrupel - jetzt ist ihm die Erkenntnis wichtig, »daß es im Spitzensport ein natürliches Bestreben gibt, die vorhandenen Hilfsmittel auch einzusetzen«. Das Dopen erscheint dem Juristen schon dadurch gerechtfertigt, daß ja alle dopen: »Wir müssen mitbetrügen.«

Harm Beyer in der Pose des Aufwieglers, der darüber hinaus generell einer »jahrzehntelang gewachsenen Heuchelei« entgegentritt: »Coubertin und Jahn gelten nicht mehr«, verkündet der zeitgemäße Ideenträger in einem schriftlich fixierten Orientierungsrahmen. Statt noch immer »den idealistischen Prinzipien _(* Mit ihrem Trainer Bernd Henneberg bei ) _(einer Pressekonferenz in München. ) wie Ethik, Moral, Fairness, Edelmut etc.« nachzuhängen, empfiehlt er Athleten und ihren Betreuern umzudenken.

Wie vollzieht sich ein solcher Wandel, der ihn dem Verdacht aussetzt, sich als fortwährender Querkopf profilieren zu wollen? Der galoppierende Avantgardist begründet seine Kehrtwende mit den Turbulenzen der nationalen Annäherung Anno ''90/91. Als die deutschdeutschen Sport-Dachverbände ihre beiderseitigen Praktiken aufzuarbeiten begannen, hatte er noch geglaubt, »daß alles Böse der DDR anzulasten ist«.

Das war aber ein Irrtum. Auch in der ehemaligen Bundesrepublik, erkannte der berufsmäßige Ermittler, »wurden die Siege aus der Retorte geplant« - und er, natürlich ahnungslos, sei »da mittendrin gewesen«.

»Mittendrin und nichts bemerkt«, beteuert der Funktionär, während ihn noch in der Rückschau ein Hauch von Scham darüber anzufliegen scheint. Was passiert mit einem Menschen, der sich der Gerechtigkeit schon aus Gründen der Profession verpflichtet fühlt und sich nun so nahe am Abgrund handelnd erlebt? Der kriegte zunächst einmal, sagt Beyer, »einen gewaltigen Schreck« und fing dann finster entschlossen an, das Sumpfgebiet trockenzulegen.

Daß er''s zumindest versucht hat, wird auch von niemandem in Abrede gestellt. Der Deutsche Sportbund wählt den einstigen Schwimmerpräsidenten in die sogenannte Richthofen-Kommission, die den Kampf gegen den Anabolika-Mißbrauch aufzunehmen verspricht. Allen voran, Harm Beyer erwirbt sich den Ruf, mit »unnachgiebiger Härte« zu recherchieren - einen »einsamen Wolf« nennt ihn die Bild-Zeitung anerkennend; doch der Mann des fixen Haftbefehls hatte schon da eine kaum mehr nachvollziehbare Doppelstrategie im Visier.

Einerseits jagt er zum Beispiel dem (DDR-)Schwimmstar Astrid Strauß hinterher, zugleich sagt ihm sein Gespür, »daß das nicht zu schaffen ist«. Zwar wirkt er an Anti-Doping-Appellen mit, die er aber durch gegenläufige Interviews ziemlich konfus wieder entwertet.

Harm Beyer analysiert nun Zug um Zug das wahre Wesen der Sache: Sport im Hochleistungsbereich ist für ihn etwas prinzipiell anderes als die in die Breite zerfließende Leibesertüchtigung und deshalb von ihr zu trennen. Eine Elite, die »den Sieg und nur den Sieg« zu erbringen habe, müsse sich »erforderlichenfalls alles erlauben dürfen« - Anabolika-Mast inklusive.

Es sei ihm in dieser vorolympischen Phase darum gegangen, die Öffentlichkeit »wachzurütteln« ("Ich bin doch gegen das Zeugs"), aber wer versteht das noch? Im Grunde ist das auch egal, denn nach Barcelona kommt es vollends zum Coming-out. Deprimiert darüber, daß »das Spritzen bei den Spielen gängige Praxis war«, werden die chemischen Hiwis hinfort als Mittel der Chancengleichheit angepriesen.

Darf sich der Springinsfeld seither als kühner »Systemsprenger« (Stuttgarter Zeitung) fühlen? Daß der derb wirkende Narziß keinem Krach ausweicht, hat ihm schon immer neben gepflegter Feindschaft Bewunderung eingetragen. 1986, nach einer publicityträchtigen Attacke auf Josef Neckermanns Sporthilfe, wählten ihn Journalisten gar zum »Funktionär des Jahres«.

Gilt er den einen als Vordenker des deutschen Sports, sehen ihn andere, etwa der ehemalige Volleyball-Präsident Roland Mader, als dessen »Problembeschaffer« - und mehr: Zweifel an der von Beyer behaupteten Uneigennützigkeit seiner Parforceritte sind zumindest diesmal angebracht.

Denn sein Bestreben, den vereinigten deutschen Athleten verbesserte Wettbewerbsperspektiven zu eröffnen, indem er sich zerknirscht der normativen Kraft des Faktischen beugt, geht mit einem anderen Ziel Hand in Hand: Der ehrgeizige Jurist möchte im Dezember den Chef des Nationalen Olympischen Komitees (NOK), Willi Daume, beerben.

Dann wäre der nach eigenem Empfinden »Funktionär mit Leib und Seele« unter den so bezeichneten Sportführern die klare Nummer eins - und um das werden zu können, macht es wohl Sinn, ein möglichst windschnittiges Programm aufzulegen. Muß das für die Betroffenen nicht entlastend wirken, wenn sich nun schon sogar ein Strafrichter aus dem Fenster hängt und das leidige Doping zu sanktionieren verspricht?

Harm Beyer for president: Wer ihn wähle, streut der Kandidat seit Wochen, gebe einer »radikalen Erneuerung die Stimme«. Lange ist es noch nicht her, daß er die jungen Athleten davor zu bewahren suchte, eine »fehlgeleitete Persönlichkeitsentwicklung« in Kauf nehmen zu müssen: »Mir ist der Mensch wichtiger als die Goldmedaille . . .« Alles Papperlapapp von gestern.

Der mutierte Jurist ist aus härterem Holz. In Aufsätzen träumt er davon, »schon jetzt etwa 5000 Sportler« zu rekrutieren, um sie auf die Olympischen Spiele des Jahres 2000 hinzutrimmen. Nachdem der einsame Wolf »jeglichen Glauben und jegliche Hoffnung verlor, daß die Funktionäre das Doping-Problem in den Griff kriegen«, packt ihn die Großmannssucht. Würden im leider uneinig Vaterland nur alle »Ressourcen« zusammengefaßt, entstehe »ein Potential, das in seinem Ausmaß unübertroffen sein dürfte«.

Und wie sich das zu voller Blüte entfalten läßt, ist ihm gleichfalls klar. Man muß das Erfolgssystem bloß dem wahren Leben abgucken: Gerade in unserer Gesellschaft gelte ja, »daß nirgendwo moralische oder ethische Skrupel herrschen, wenn Hilfsmittel, auch die chemischen, eingesetzt werden, um die Leistungsanforderungen zu erfüllen«.

Erkennbar tobt sich da der Fatalismus des Enttäuschten aus. Ein seltsamer Zwang erlegt dem Kreuz-und-Quer-Denker auf, was ihm »eigentlich eine Herzensangelegenheit« ist, sofort wieder zu denunzieren.

Natürlich, sagt er ein bißchen matt, habe das alles mit Sport im Kern nur noch wenig zu tun; man dürfe sich »an Variete, Artistik, Zirkus erinnert fühlen - oder welchen Ausdruck Sie hier auch immer gebrauchen möchten«. Wird Beyer befragt, was ihn veranlaßt, einer solchen Vereinigung vorstehen zu wollen, also gleichsam den Zirkusdirektor zu spielen, versickert die Antwort zunächst im Unverständlichen. Grübelnd hantiert der Kandidat in seinem Amtszimmer an der Kaffeemaschine, über der als einziger Schmuck ein Foto hängt. Das Bild zeigt ihn beim Tete-atete mit dem Bundespräsidenten.

»Ja, warum macht man das . . .? Weil man was bewegen will«, sagt er wie von ferne.

* Mit ihrem Trainer Bernd Henneberg bei einer Pressekonferenz inMünchen.

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