OLYMPIA "76 »Wir wissen genau, wie es gemacht wird«
Kaum hatte das Auswahl-Komitee die 311 bundesdeutschen Olympia-Teilnehmer aufgestellt, da kamen bundesweit Kritik, Erregung und Zorn auf. Übergangene Athleten mobilisierten Bürgermeister, Bundestags-Abgeordnete und Minister.
Der Bergheimer Sprinter Heinz Busche drohte sogar mit einer Einstweiligen Verfügung. Sein Trainer Peter Marcy ist Anwalt und behauptet: »Bei der Aufstellung der 4X100-Meter-Staffel ist manipuliert worden.« Er setzte ein zusätzliches Ausscheidungs-Rennen durch -- vergebens.
»Noch keine Olympia-Mannschaft der Bundesrepublik ist besser vorbereitet worden als die für Montreal«, sagte Willi Daume, der Präsident des Nationalen Olympischen Komitees (NOK) für Deutschland. Noch nie waren Auswahl und Vorbereitung so streng und so scharf wie zu Olympia '76. Sie glichen denen für DDR-Staatsamateure.
Optimistisch rechnen die Experten der ZDF-Sportredaktion 39 Medaillen für das Bundes-Team zusammen, »Bild« sagte gar 42 Plaketten für Montreal an.
In München hatten die Bundesdeutschen zwar 40 Medaillen erkämpft, aber vier davon in den mittlerweile gestrichenen Kanuslalom-Wettbewerben. Etwa sechs müssen zudem, laut Helmut Meyer, Leitendem Direktor des Bundesausschusses für Leistungssport (BAL). wegen des Münchner Heim-Vorteils abgezogen werden. Die Generalprobe bei den Olympischen Winterspielen in Innsbruck hatte wider Erwarten und entgegen der BAL-Hochrechnung (fünf bis neun Medaillen) mit zehn Medaillen geendet -- doppelt soviel wie vier Jahre zuvor. »Wir gewinnen in Montreal 30 Medaillen«, versprach Meyer mit Understatement.
Die Subventions-Quellen waren kräftiger denn je gesprudelt: 16 Millionen Mark erhielten die Fachverbände aus Bonn -- allerdings auch für nichtolympische Aufgaben. Drei Millionen Mark gehen für Transport und Unterkunft der Mannschaft in Montreal drauf. Dafür kamen 2,635 Millionen Mark von der Sporthilfe dazu.
Schließlich durften die bundesdeutschen Olympia-Funktionäre rund zwölf
* Mit der polnischen Weltrekordlerin Irena Seewjnska (M.).
Millionen Mark für die Vorbereitung von Montreal verplanen. Umgerechnet auf die erwarteten 30 Medaillen ergäbe das 400 000 Mark pro Stück.
Damit setzt die Bundesrepublik kaum weniger als die DDR ein, eher mehr. »Es liegt nicht am Geld, daß die drüben besser sind als wir«, räumte Hermann Henze, Schwimmwart des Deutschen Schwimm-Verbandes, ein.
Daß die DDR bisher erfolgreicher auftritt, verdankt sie ihren Frauen: Allein die Schwimmerinnen und Leichtathletinnen sind für 40 Medaillen vom erwarteten Gesamtsoll von 70 bis 80 Medaillen in Montreal gut. Die DDR-Männer dagegen haben ihren Vorsprung fast eingebüßt. Im Männersport wächst die Konkurrenz von Jahr zu Jahr, seit moderne Trainingsmethoden, bisher Domäne der DDR, bis ins kolumbianische Hochland vorgedrungen sind.
Bei den Leningrader Ringer-Europameisterschaften 1976 lag, wie das Ost-Berliner »Sportecho« berichtete, während der Vorbereitungen zur Siegerehrung »das Banner der DDR zunächst ganz obenauf«. Aber dann griffen die Zeremonienmeister nach den »Fahnen Griechenlands und Norwegens, und man faltete schließlich das Schwarzrotgold mit Hammer und Zirkel stillschweigend zusammen und legte es auf die äußerste Ecke.
Auf derselben Zeitungsseite hielt das »Sportecho« dem DDR-Eishockey-Kollektiv »mangelnde Wettkampfhärte« vor und nörgelte: »In manchen Begegnungen fehlte einfach der Funke Begeisterung.« Vermutlich meinten die DDR-Kritiker die 2:7-Niederlage gegen die Bundesmannschaft, die bei der Weltmeisterschaft zum Abstieg geführt hatte. Zuvor war schon Hallenhandball-Vizeweltmeister DDR von der Bundes-Equipe in der Olympia-Qualifikation ausgebootet worden. Die DDR-Volleyball-Mannschaft, 1972 noch Olympia-Zweiter, fehlt nach einem siebten Platz bei der Europameisterschaft 1975 ebenfalls: in Montreal.
Ohne seine überlegenen Athletinnen müßte das Musterland des Staatssports schon beim Olympia in Montreal um seinen dritten Platz im Weltsport bangen. Auf dem vierten Platz folgt die Bundesrepublik ohnehin. Die Athleten von hüben rücken der DDR aufs Trikot, weil sie Muster des ausgefeilten und bewährten DDR-Förder- und Planungs-Systems übernommen und mit mehr Mark vergoldet haben.
Nur bei der Talentsuche hinkt die Bundesrepublik hoffnungslos hinter der DDR her, »Die holen sich die Talente schon aus dem Kindergarten«, schreibt der Mainzer Professor Dr. Manfred Steinbach. der selbst in der DDR mit dem Leistungssport begonnen hat. Der Bundessport entwickelte bislang nur einen unvollkommenen Ansatz: Die Aktion »Jugend trainiert für Olympia« sollte bei bundesweiten Vorkämpfen und einem Finale in neun olympischen Sportarten sportliche Begabungen entdecken helfen. Den Wettbewerb betreiben ausschließlich Schulmannschaften. Doch bislang setzten sich überwiegend Jugendliche durch, die ohnehin einem Verein angehören.
Drüben in der DDR unterhält jeder der 15 Bezirke mindestens eine Kinder- und Jugendsportschule (KIS). Insgesamt gibt es 20. Sie verbinden Training und Unterricht bis zum Abitur. Hüben richtete immerhin der Deutsche Ski-Verband in Berchtesgaden ein Ski-Internat im Christophorus-Gymnasium ein, die Schwimmer gründeten ein Internat in Saarbrücken, aus dem der Kraulrekordler Klaus Steinbach hervorging. Fast alle Turnerinnen der Nationalriege trainieren in der Frankfurter Turnschule. Der Fecht-Nachwuchs hat seine Schule in Bonn, die Modernen Fünfkämpfer bezogen eine in Warendorf. Anders als in einer KJS der DDR besuchen die bundesdeutschen Internats-Sportler jedoch allgemeine Schulen am Ort.
Ein Nachholbedarf bestand auch an wissenschaftlich ausgebildeten Trainern. Aber seit 1974 schließt eine Trainer-Akademie in Köln die Lücke. Hochqualifizierte Ausbilder, die schon eine Sportlehrer- und Trainer-Qualifikation besitzen, erhalten dort den im modernen Medaillenkampf erforderlichen wissenschaftlichen Schliff.
»Da konnte man die Praxis um den theoretischen Unterbau ergänzen«, lobte Box-Bundestrainer Dieter Wemhöner, der sich im Eröffnungs-Lehrgang ein Diplom erwarb. Inzwischen nahm auch Bob-Olympiasieger Wolfgang Zimmerer das Studium auf. Er soll Bundestrainer werden.
»Zu irgendeiner Stunde irgendeine Leistung vollbringen.«
Erheblichen Anteil am Aufschwung des Bundessports haben jene Trainer und Wissenschaftler, die aus dem Ostblock zugewandert sind. Eduard Friedrich ("Schleifer-Edu"), der die Bundesturner wieder auf Weltniveau führte. wurde an der Leipziger Hochschule für Körperkultur (DHfK) ausgebildet.
Sein Nachfolger Vaclav Kubicka stammt aus der Turnerhochburg (SSR. Dessen Ehefrau Jana trimmt die Mädchenriege in Frankfurt. Schwimm-Bundestrainer Horst Planert kam aus der DDR. Die Wasserballer bereitet der Rumäne Nicolac Firoiu vor. Außerdem halfen viele Klubtrainer, wie Günter Blume, Trainer des Deutschen Volleyball-Meisters HSV, den Bundes-Standard beträchtlich zu heben.
Wie in der DDR verfügen auch in Bundesdeutschland alle olympischen Sportarten über mindestens ein Leistungszentrum. Insgesamt 22 Bundes- und 30 Landes-Leistungszentren sowie 142 regionale Stützpunkte und 16 sportmedizinische Institute finanzierte Bonn mit bislang 150 Millionen Mark. Ende 1976 soll es schon 95 Bundestrainer geben. Bonner Zuschuß: 4,25 Millionen Mark.
Wichtigster Umschlagplatz zwischen Theorie und Praxis im Sport ist der BAL, der in seiner Funktion ungefähr dem Forschungsinstitut des DDR-Sports in Leipzig entspricht. Zu den Direktoren gehört der Pole Thomasz Lempart, der schon in Warschau die Sportplanung mit verantwortet hatte. Der BAL sammelt sportwissenschaftliche Erkenntnisse aus aller Welt und gibt sie an die Trainer und Fachverbände weiter.
»Wir wissen genau. wie es gemacht wird«, unterstellte BAL-Direktor Meyer. »Nur wurden unsere Anregungen leider nicht immer angenommen.« Wie in der DDR läßt der BAL im Kölner Bundesinstitut für Sportwissenschaft einen Computer mit allen verfügbaren Daten. Wettkampf- und Trainingsergebnissen von Athleten füttern.
Das »neue System der Trainingskontrolle«, erklärte Turn-Experte Friedrich den ersten Test an Turnern, lasse erkennen, »ob ein Athlet zu irgendeiner Stunde irgendeine Leistung vollbringen kann -- oder auch nicht.« Der Datenspeicher soll möglichst die Siegertypen aussortieren. Allerdings »wird die Aktion frühestens bei den Olympischen Spielen 1980 in Moskau nutzen«. schränkte Meyer Montrealer Medaillenträume ein.
* Mit bundesdeutschem Weltmeister Eberhard Gienger.
In Montreal zeichnen 20 BAL-Mitarbeiter mit drei Kameras und drei Videorekordern die besten Sportler der Welt zur späteren Auswertung auf. Aber sie werden den Bundes-Athleten auch einen Schnell-Service liefern und vor allem Boxer, Ringer und Judoka mit Studien von ihren jeweils nächsten Gegnern bedienen.
»In der Grundlagen-Forschung«, meint der Freiburger Professor Dr. Josef Keul. »da sind wir klar besser.« Er leitet eines der 16 bundesdeutschen sportmedizinischen Zentren. Inzwischen muß sich jeder einem Leistungskader angehörende Athlet zweimal jährlich Tests auf Herz und Lunge unterziehen. Andernfalls verliert er den Sporthilfe-Zuschuß. Zwölf Sportärzte begleiten die Olympia-Mannschaft nach Montreal.
Auch auf dem Feld der sozialen Absicherung haben die Deutschen-West aufgeholt, vor allem durch ihr privates Sozialwerk, die Stiftung Deutsche Sporthilfe. Die Unterstützungs-Millionen brachten Schallplatten und Sammlerlöffel, Sporthilfe-Feste und Olympia-Bücher ein, das meiste freilich die TV-Lotterie Glücksspirale und Zuschläge von Sondermarken.
Die Stiftung fördert insgesamt 2010 Sportler. Die 500 Olympia-Anwärter des sogenannten A-Kaders erhielten im Monatsschnitt 600 Mark. Sporthilfe-Gelder werden nach individuellen Bedürfnissen vergeben. Sie ersetzen Verdienstausfall und finanzieren Fahrten zum Training.
Noch geht es jedoch DDR-Spitzensportlern besser. Solange sie die erwarteten Leistungen vollbringen, beziehen sie in sogenannten Kader-Stellungen, verglichen mit gewöhnlichen Werktätigen, überdurchschnittliche Gehälter, obwohl sie nur arbeiten. soweit es das profihafte Training und die ausgedehnten Wettkampfreisen zulassen.
Ihr sportlicher Leistungs-Plan ist mit einem beruflichen Ausbildungs-Plan abgestimmt: Er läßt ihnen für Studium oder berufliche Qualifikation großzügig Zeit und verbeißt ihnen eine gesicherte Zukunft. Viele, wie der Europameister Manfred Matuschewski oder Siegfried Herrmann, geben ihre Erfahrungen als Trainer weiter. Skisprung-Olympiasieger Helmut Recknagel praktiziert als Tierarzt. Der frühere Radweltmeister Gustav Adolf ("Täve") Schur brachte es zum Volkskammer-Abgeordneten.
Sichere Versorgungsplätze für Sportler halten Polizei und Armee warm. Ein Drittel der 289 DDR-Olympiateilnehmer in Montreal, fast 30 Prozent. gehört einem SC Dynamo (Polizei, Sicherheitsdienst) oder einem ASK (Armeesportklub) Vorwärts an. Aber auch von den 261 männlichen Olympia-Teilnehmern der Bundesrepublik dient etwa jeder sechste in der Bundeswehr.
Von einem Nebenfluß der Elbe bis in die Weltspitze.
Insgesamt besoldet das Leber-Ministerium zur Zeit etwa 500 Spitzen-Athleten. Ungefähr zehn Millionen Mark schießt es in die sportliche Leistungsförderung. Unter Sportlern gehören die beiden Sportkompanien in (der früheren NS-Ordensburg) Sonthofen und in Warendorf zu den begehrtesten Trainingsgemeinschaften.
In Warendorf entstehen bis 1978 Sportanlagen für 68 Millionen Mark. Zu den Bundeswehr-Trainern gehört der frühere Weltrekordläufer Harald Norpoth. In Warendorf trainieren auch der Hammerwurf-Favorit Karl-Hans Riehm und der fünffache Kraul-Europameister Peter Nocke.
Die höchsten Medaillen-Erwartungen begleiten jedoch den Hamburger Skuller Peter-Michael Kolbe, 22. Zwar führt die Warendorfer Sportkompanie den Weltmeister im Einer-Rudern in ihren Akten. Aber nach der Grundausbildung durfte er wie gewohnt zu Hause schlafen und trainieren.
»Er strahlt auf mich eine unheimliche körperliche und nervliche Vitalität aus«, schwärmte Doppel-Olympiasiegerin Heide Rosendahl über den 1,94 Meter langen Ausnahme-Athleten. Kinderärztin Dr. Heidi Schüller. Weitsprung-Olympia-Fünfte und olympische Eidessprecherin von 1972, urteilte: »Er hat den nötigen Nerv und ist ein ausgesprochener Siegertyp.«
Vor allem beweist der Fall Kolbe. daß im Bundessport auch Einzelgänger noch immer ihre Chance finden. Keiner der vornehmen Ruderklubs an der Alster hatte Kolbe entdeckt und gefördert. Er ruderte sich auf dem Elbenebenfluß Bille in einem Arbeiter-Sportverein, dem Hammerdeicher RV. an die Weltspitze.
Von wissenschaftlichen Methoden erfuhr Kolbe, nachdem er ohne Verbandshilfe -- 1973 als einziger Bundesdeutscher sensationell Europameister geworden war.« Obwohl er ohne wissenschaftliche Grundlage trainierte«, wunderte sich der Berliner Sportarzt Dr. Krause, »hat er das Richtige gemacht.« Der Gießener Ruderer-Arzt Professor Dr. Paul Nowacki stellte fest: »Er hat das größte Herz, das wir je bei einem Skuller gemessen haben -- 1300 Kubikzentimeter«
Er arbeitet mit seinem Trainer, dem Schiffbauer Lothar Siepelt, »ohne viel Quasselei« zusammen und hatte sich Rat bei dem inzwischen verstorbenen Ratzeburger Ruder-Reformer Karl Adam geholt. Viele kleine Mäzene unterstützten ihn spontan: Ein Bauer stiftete frische Milch, eine Molkerei Joghurt, ein Imker Honig, die Hamburger Schlachter-Innung Steaks.
Wenn die Konkurrenten noch keuchend in ihren Skiffs kauern, entnervt er sie zusätzlich durch provozierendes Grienen. »Alles ohne Psychologen«, trumpfte Kolbe nach seinem Weltmeisterschafts-Sieg 1975 auf.
Kolbe wäre nicht der erste Bundeswehr-Olympiasieger. Franz Keller (Nordische Kombination), Hans-Johann Färber (Ruder-Vierer) und Bernd Kannenberg (50 Kilometer Gehen) erkämpften schon Gold. Sie sind allerdings Berufssoldaten. Die meisten Bundeswehr-Sportler genießen die Vorteile ungestörten Trainings allenfalls zwei Jahre. Anders die DDR-Sportsoldaten: Sie bekleiden in der Regel pensionsberechtigte Planstellen und haben Vorrang bei Beförderungen.
Unlängst beschloß in der Bundesrepublik die Kultusminister-Konferenz, auch erfolgreichen Sportlern bei der Vergabe von Studienplätzen einen Bonus für Härtefälle zu gewähren. Hochsprung-Olympiasiegerin Ulrike Meyfarth begann schon in diesem Sommer nach einem Wartesemester mit ihrem Sportstudium.
»Wir haben sorgfältig studiert, wie die anderen es machen«, räumte der bundesdeutsche Olympia-Chef Willi Daume ein. »Das ist auch ein gesellschaftspolitisches Problem. Aber was wir für gut befinden und in unserer Gesellschaftsordnung anwenden können. haben wir auch ausgewertet.«
Für die Innsbrucker Winter-Olympiade mit Erfolg: von den nur 76 ausgewählten Bundessportlern waren 66 unter die besten zehn gelangt, und etwa jeder dritte einschließlich der Eishockey-Mannschaft hatte eine Medaille zurückgebracht. Deshalb beschlossen die Funktionäre, auch in Montreal nur eine kleine Mannschaft aus Endkampf-Anwärtern einzusetzen.
»Die Belastung durch Touristen, durch zu früh ausgeschiedene Athleten macht eine Mannschaft schwerfälliger«, begründete BAL-Direktor Meyer. »Die starken Teilnehmer werden nervös.« Die Forderung, außerordentlich anspruchsvolle Olympia-Normen zu einem ungewöhnlich frühen Zeitpunkt zu erbringen, zwang die Olympia-Kandidaten. wöchentlich bis zu 36 Trainings-Stunden zu leisten. Sie mußten ihr Tagestraining in zwei oder gar drei Trainings-Abschnitte teilen, weil das gesamte Pensum ohne Erholungspause nicht zu verkraften gewesen wäre.
Noch im Winter trimmten sich etwa die Schützen durch Skilaufen und Schwimmen. Während ihrer Olympialehrgänge übten sie bis zu sechs Stunden mit ihren Waffen, verbesserten dann zwei bis drei Stunden ihre Kondition durch Kraftübungen. Abends studierten sie ihr eigenes Training am Videorekorder oder betrieben mentales Training -- sie vollzogen den Zielvorgang immer wieder in ihrer eigenen Vorstellung. Der Wurftaubenschütze Claus Koch schaffte im Olympia-Test ein unüberbietbares Ergebnis -- 200 Treffer mit 200 Schuß.
Entscheidende Vorteile kann das Material verschaffen. Die Wurftauben-Schützen rüstete der Büchsenmacher Konrad Wirnhier aus, der Olympiasieger von 1972. Den Kanufahrern bezahlte Bonn 23 000 Mark für einen Forschungsauftrag über die Auswirkungen der geringen Wassertiefe in Montreals Regattabahn.
»Einige Leichtathleten sind in Bereiche vorgestoßen, die sie nicht kennen«, erklärte Horst Blattgerste, Leistungsreferent im Deutschen Leichtathletik-Verband (DLV). »Geht das gut oder nicht?« Die Langstreckler legten wöchentlich bis zu 200 Kilometer zurück. Zwei Millionen Mark aus Bonn im DLV-Etat ermöglichen eine optimale Vorbereitung.
Die Abfolge der sportlichen Höhepunkte in der Olympia-Saison hatte der DLV schon in seinem Programm von 1975 vorweggenommen. Bei fünf internationalen Wettkämpfen innerhalb von drei Wochen im Mai/Juni 1976 verlangten die Planer den Leichtathleten die hochgesteckten Normen ab. Damit forderten sie zugleich eine außerordentliche Nervenprobe, Härtetest für den olympischen Streß.
Ein Indiz für planmäßig steigende Form lieferten die Läufer. Bald nach der Normen-Schinderei unterboten Thomas Wessinghage und Paul-Heinz Wellmann den deutschen 1500-Meter-Rekord. Der 5000-Meter-Läufer Klaus-Peter Hildenbrand, der die Norm 03:30 Minuten) im dritten Anlauf um 4/10 Sekunden mühsam unterboten hatte, näherte sich vorletzte Woche mit der drittbesten je gelaufenen Zeit (13:13,69 Minuten) dem Weltrekord auf 7/10 Sekunden. Ein Dutzend Medaillen erwarten die Experten bei den Leichtathleten.
Rechtzeitig hatten die Funktionäre Ausweich-Quartiere 150 Kilometer vom Trubel in Montreal entfernt in Trois Rivières belegt. Von dort reisen sie kurz vor ihrem Wettkampf an, ähnlich den Schwimmern.
Alles bis zur Goldmedaille trauen Optimisten der Handball-Mannschaft zu, die in München mit einem sechsten Platz arg enttäuscht hatte. Dann engagierte der Deutsche Handball-Bund Vlado Stenzel. den Trainer des Olympiasiegers Jugoslawien. Der entließ zuallererst die beliebtesten und erfolgreichsten Nationalspieler. Nicht nur deshalb räumte ihm niemand eine Chance ein: Die Bundesrepublik mußte sich gegen den Vizeweltmeister DDR qualifizieren. Stenzel schaffte das Meisterstück.
»Schinder«-Stenzel nennen die Spieler den bärtigen Handhall-Fanatiker. Er bereitete die Bundesmannschaft fast so vor wie zuvor die Jugoslawen. Während ihres Olympia-Lehrganges in München mußten die Spieler immer wieder, teils auf einem Bein, die Stufen der Olympia-Halle hochhüpfen. Wer beim Sprungwurf-Training über ein meterhohes Seil kein Tor erzielte, pumpte drei Liegestütze. Die Spieler trainierten auch mit einem doppelt schweren Ball und spielten an vier Abenden je zwei Spiele nacheinander gegen frische Gegner.
»Meine Spieler sind alle fix und fertig«, stellte Stenzel zum Trainings-Höhepunkt zufrieden fest. »Sie bringen jetzt nur 20 Prozent ihres Leistungsvermögens.« Dann erst setzte zum Schluß der 145 000 Mark teuren Vorbereitung die Feinarbeit ein: Die Spieler übten verwirrende Spielzüge und taktische Finessen. Die Bundesdeutschen werfen die jüngste (Durchschnitt: 24 Jahre) und längste (Schnitt 1,90 Meter) Mannschaft in die Medaillen-Schlacht.
Wie die Handballer empfahl sich noch ein anderer Athlet unerwartet als Medaillen-Anwärter: Gewichtheber Rolf Milser, 25. Aus dem Mittelmaß hervortretend, stieß der Außenseiter bei der Europameisterschaft plötzlich Weltrekord. Eigentlich hatte er sich eine Fasten-Medaille verdient. Innerhalb von drei Tagen hungerte er sich zehn Pfund ab, indem er nur noch Wasser schlürfte und Stunden in der Sauna zubrachte.
Frauen und Bräute besuchten die Gewichtheber im Sportleger.
Denn er wollte im Leichtschwergewicht (bis 82,5 Kilo) heben. In seiner eigentlichen Gewichtsklasse, dem Mittelschwergewicht (bis 90 Kilo), war und ist der beste Gewichtheber der Welt, der sowjetische Weltrekordler David Rigert, unantastbarer Favorit. »Im Mittelgewicht könnte ich nur Zweiter werden, im Leichtschwergewicht kann ich gewinnen oder Sechster werden«, erwog Milser seine Montreal-Chance. »Ich bin ein Spieler, deshalb starte ich in der leichteren Klasse.«
Seit dem Winter liftete er im Trainings-Zentrum der Heber, Herzogenhorn im Schwarzwald, täglich 70 Tonnen, zuletzt sogar 80 Tonnen, das Gewicht von vier Güterwaggon-Ladungen. Den nötigen Urlaub gewährte das Duisburger Sportamt, bei dem Milser als Betriebsschlosser arbeitet. Frauen und Bräute durften die Schwerstarbeiter im Lager besuchen. Jede vierte Woche gab es für die Heber-Riege Heimaturlaub zur Erholung. Bei seiner olympischen Generalprobe vollbrachte Milser ein Bravourstück: Im TV-Studio produzierte er nacheinander sieben deutsche Rekorde.
Aber die Olympia-Teilnehmer konnten sich nur deshalb erfolgversprechend vorbereiten, weil Regierung und Parteien darin wetteiferten, dem Medaillensport die nötigen Millionen bereitzustellen. Mittlerweile erhoben auch andere Staaten der westlichen Welt den Leistungssport zur staatspolitischen Prestige-Aufgabe.
»Ich bin dafür, alles zu tun, was wir können und so schnell wie möglich«. erklärte US-Präsident Ford 1974. »Es ist eine Schande um jeden in diesem Land, der seine sportlichen Möglichkeiten nicht ausschöpft.« Bislang nippte der US-Amateursport lediglich aus privaten Quellen. 1975 setzte Ford eine Kommission ein, die in den olympischen Sportarten Soll und Haben untersuchen und im Herbst dieses Jahres ihre Ergebnisse vorlegen soll.
Insgesamt brachten die US-Olympier, vor allem durch TV-Einnahmen und Olympia-Münzen, zwölf Millionen Dollar für ihre Montreal-Mannschaft zusammen, Aber es traf sie ein bitterer Rückschlag: Als Funktionäre das Geld durch Börsenspekulation vermehren wollten, büßten sie in der Baisse 700 000 Dollar ein. Doch erstmals reichte der Kassenstand. allen zu den Qualifikations-Kämpfen eingeladenen Leichtathleten ihre Spesen zu ersetzen.
»Sportliche Erfolge erhöhen das Ansehen der Nation und verstärken das Nationalgefühl«, unterstellte der britische Sportminister Denis Howell 1975 in einer Regierungserklärung. Er forderte die britischen Unternehmen auf. Stipendien für Sportler auszusetzen. Einen Steuernachlaß für Sportspenden diskutieren die Parlamentarier schon. Nach einem Besuch in der Frankfurter Sporthilfe-Zentrale gründeten auch die Briten 1975 eine »Sports Aid Foundation«.
Frankreichs verstorbener Staatschef General de Gaulle, der 1960 die glanz- und goldlose Heimkehr seiner Olympia-Kompanie aus Rom als »nationale Schande« gebrandmarkt hatte, übernahm als erster östliche Armeesport-Modelle: Es entstand das Sportbataillon Joinville.
Vor den Höhenspielen 1968 in Mexico City gruben die französischen Sportförderer zudem ein ausgedehntes Sportzentrum 1800 Meter hoch in die Pyrenäen: Font Romeu. Dort bereitete sich sogar die polnische 400-Meter-Weltrekordlerin Irena Szewinska auf Montreal vor.
Jüngst drückte Präsident Giscard seinen »Willen aus, Frankreich zu einer großen Sportnation zu machen«, vor allem, weil der weltweite Wettkampfsport »ein Mittel der internationalen Konfrontation« geworden sei.
Ihre Olympiakämpfer von 1976 unterstützt die Regierung mit insgesamt 6,635 Millionen Franc (3,58 Millionen Mark). Davon werden Verdienstausfall und Material, Trainingslager und Wettkampfreisen finanziert. 1,8 Millionen Mark läßt sich Paris die Entsendung seiner Montreal-Mannschaft kosten.
Auch die Schweiz gründete eine Sporthilfe nach Bundes-Muster. Sie versorgt mit ungefähr einer Million Franken Jahreseinnahmen etwa 300 Athleten.
Die Grenzen des DDR-Sportwunders zeichnen sich ab.
Gastfreundschaft und sportliches Know-how suchen Olympia-Athleten aus der Dritten Welt vor allem in der Bundesrepublik: Asien-Hochsprungmeister Timur Ghiassi aus dem Iran, die vier Olympia-Leichtathleten Togos, der kolumbianische Langstrecken-Star Victor Mora, Ugandas 400-Meter-Hürden-Olympiasieger John Akii-Bua, sie alle studierten ihren Olympia-Auftritt in der Bundesrepublik ein.
Tatsächlich dringen immer neue Länder wie Uganda und die Mongolei in die olympische Medaillen-Statistik vor. 1956 hatten 38 Länder mindestens eine Medaille errungen. 1972 teilten sich schon 48 das Edelmetall. Allerdings: Vom Beginn einer gezielten Förderung und Planung bis zum Erfolg vergehen -- siehe DDR -- zwischen fünf und acht Jahre.
In der Bundesrepublik faßt die Förderung allmählich. Das Ost-Berliner »Sportecho« bezweifelt denn auch die »übervorsichtige Medaillenprognose« des BAL (30 Medaillen). »Es tut sich was«, lobte BAL-Vorsitzender Heinz Fallak. »die Leistungsentwicklung ist hocherfreulich.«
Angesichts der zunehmenden Konkurrenz zeichnen sich die Grenzen des DDR-Sportwunders ab -- zu einem Zeitpunkt, da die Olympiamannschaft des Arbeiter-und-Bauern-Staates sich anschickt, in Montreal ihren höchsten Erfolgs-Gipfel zu erklimmen.
Aber: »Wir können nicht überall an der Spitze stehen«. schränkte DDR-Sportchef Manfred Ewald ein. »Trotz aller großzügigen Hilfe durch Partei und Staat sind auch uns Grenzen gesetzt.« Vor den finanziellen Anforderungen der olympischen Materialschlacht haben die DDR-Sportplaner an einigen Abschnitten schon kapituliert und die intensive Förderung eingestellt. Mannschaftsspiele. in denen hoher Aufwand bestenfalls eine Medaille erbringt, hat die DDR in ihrer Olympiaplanung abgeschrieben.
Denn die DDR-Experten wissen besser, was BAL-Direktor Meyer für die Olympischen Spiele voraussagte: »Es gibt keine Sensationen mehr, allenfalls noch Überraschungen, aber auch die werden immer seltener.«