Siegfried Perrey Zwei Finger hoch und »Kikeriki«
Wie soll man sich den Regieraum vorstellen, von dem aus Olympische Spiele dirigiert werden können? So vielleicht: eine lange, schön geschwungene Wand mit mindestens zwölf sauber eingebauten Bildschirmen, auf denen die wichtigsten Wettbewerbe gleichzeitig und live zu sehen sind; darunter grüne Tafeln, auf denen der organisatorische Verlauf jeder Veranstaltung mit rotem Fettstift schematisch dargestellt wird; die Wände angefüllt mit meterlangen graphischen Darstellungen und riesig vergrößerten Karten; ein Pult mit Tonbandgeräten zur Aufzeichnung telephonischer Alarmmeldungen.
Es gibt diesen Raum. Er befindet sich, nebst einem sogenannten Lageraum, einer Fernschreibstelle, einer Funkstelle und einer eigenen Küche im 4. Stock des Gebäudes Saarstraße 7, wo das Organisationskomitee (OK) der Münchner Spiele haust. Dort ist die »Olympia-Leitzentrale«. Nur: Geleitet werden die Spiele von hier aus nicht.
Hier ist Utopia, in netter Form und in bester Absicht erbaut, eine Mischung aus »Raumschiff Enterprise« und dem Traum eines verhinderten Generalstäblers vom elektronischen Feldherrnhügel – ein olympisches potemkinsches Dorf.
Was auf den Monitoren erscheint, ist zwar farbig, aber im übrigen exakt das gleiche Informationsprogramm, das vom olympischen Fernsehzentrum der Rundfunkanstalten bestimmt und über neun Kanäle schwarz-weiß auch auf sämtlichen Bildschirmen der Journalistenplätze in den Stadien gesendet wird. Die sogenannten OK-Beobachter in den Stadien und Sporthallen melden der Leitzentrale nach einem zeitlich und inhaltlich fixierten Schema über Fernschreiber Beginn und Ende der jeweiligen Veranstaltung, anwesende VIPs, Besetzung der Tribünen sowie der Parkplätze und schließen ihre Meldungen im allgemeinen mit einem selbstbewußten »Keine besonderen Vorkommnisse«. So kommt es, daß auf die grünen Tafeln in der Zentrale unter der Rubrik »Situation« die Standardfloskel »Normalverlauf« beispielsweise auch dann geschrieben wird, wenn zur gleichen Zeit Angehörige des Ordnungsdienstes erfolglos, aber ausdauernd damit beschäftigt sind, die Fassadenkletterer auf den Eisenträgern an der gläsernen Wand der Schwimmhalle vermittels eines Feuerwehrschlauches zur Aufgabe ihrer unbezahlten Plätze zu bewegen.
Aber selbst wenn die Meldungen wirklichkeitsnäher wären, sie würden in dieser Leitzentrale schwerlich Entscheidungen auslösen. Denn hier sitzen zwar die »Kontakter der Einsatzleitungen« (theoretisch und, wenn das Fernsehen eine spannende Entscheidung überträgt, zehn, praktisch meistens nur die Hälfte). Doch die eigentlich entscheidungsbefugten Männer sind hier nicht. Die sind in den Stadien, in den Ehrenlogen, mit hohen Gästen unterwegs oder zwischendurch auch mal an ihren Schreibtischen – jedenfalls vor Ort und nicht vorm Bildschirm. Über ihren Verbleib wird in der Leitzentrale auf einer neu angeschafften Tafel Buch geführt – vorausgesetzt, daß der Verbleib bekannt ist.
Auch das, auch ihre Leitzentrale, haben sich die Macher der Münchner Spiele, diese Konfirmanden der olympischen Organisation, bestimmt viel schöner gedacht, mindestens sinnvoller. Nun aber erweist sie sich, erstens, als der vorläufig letzte in einer langen Reihe imposant mißglückter Versuche, die (höflich formuliert) dezentralisierte Arbeitsweise des Organisationskomitees wenigstens während des eigentlichen Spielverlaufs effektiv zu bündeln. Und sie ist, zweitens, ein mißglückter Versuch der Selbstdarstellung eben jenes Mannes, dem solche Bündelung aufgetragen war und der unter Willi Daumes Amateuren so ziemlich der einzige ausgewachsene Olympia-Profi ist.
Der Mann heißt Siegfried Perrey, ist 56 Jahre alt, zwei Meter lang, zwei Zentner schwer, und die Summe seines Lebens läßt sich in zwei Worte fassen: Gewußt wie. Er gehört zu den nicht allzu zahlreichen Menschen, für die Methodik geradezu den Rang einer Weltanschauung hat – und diese Weltanschauung kennt nur ein Glaubensbekenntnis: »Nicht kleckern, klotzen!«
Die Fama sagt Siegfried Perrey nach, er sei, obgleich des Französischen weitestgehend unkundig, durchaus imstande, auf den Champs-Elysées einen Bus anzuhalten, alle Fahrgäste zum Aussteigen zu zwingen und sich vom nämlichen Bus unverzüglich an sein Ziel fahren zu lassen. Er selber bestätigt dies dankbar. Für ihn ist es nirgendwo ein Problem, sich durchzusetzen, »wenn man die richtige Methode findet«. Und seine Gabe, immer die richtige Methode zu finden, wird allenfalls noch von seiner Bemühung übertroffen, diese Gabe ins Licht zu rücken.
Auch das leugnet er keineswegs. Er hält es schlicht für notwendig. »Totale Führung«, sagt er und umschreibt damit wohl sein Betätigungsfeld, finde, jedenfalls hierzulande, die gebührende Anerkennung dann, wenn man die Ergebnisse solcher Führung »den Medien« bei passender Gelegenheit entsprechend demonstriere. Spätestens seit der Eröffnungsfeier der Münchner Spiele, die in Perreys spezielle organisatorische Zuständigkeit fiel und in deren Verlauf keine Kamera den rasenden Regisseur auf dem Spielfeld übersehen konnte, weiß man, wie er das meint: »Diesmal ohne Karajan, aber mit Perrey.«
Das Klotzen ist, dank Perrey, schon seit den Spielen von Rom eine Art olympische Disziplin der Deutschen. Seither ist er nämlich Olympia-Inspekteur der deutschen (früher gesamtdeutschen) Mannschaften, und seit Mexiko hat er in dieser Eigenschaft den Beinamen »Don Krawallo«. Er ist der Typ, der zwei Finger hoch hält und »Kikeriki« sagt, wenn er irgendwo in Südamerika zwei Spiegeleier zum Frühstück bestellen will – und dann Krach schlägt, weil er Rühreier bekommt.
Perrey gebietet über einen Jargon, der jeden Feldwebel erbleichen lassen könnte, und wenn er davon Gebrauch macht, dann fast immer in Diskotheken-Lautstärke, aber niemals in Gegenwart höherer Herrschaften. Dies untersagt ihm sein ebenso undifferenziertes wie ausgeprägtes Empfinden für Hierarchie. Perrey hat sich selber gelegentlich einen »Wau-wau« genannt: aber dieser Wau-wau beißt nur Briefträger, keine Generäle.
Eigentlich ist der Mann Volksschullehrer, wenn schon seit zwölf Jahren beurlaubt. Er hat vier Jahre auf dem Konservatorium Klavier studiert und, als gebürtiger Ostpreuße, in der Danziger Marienkirche sogar das Organisten-Examen gemacht. Als den Traumberuf seiner Jugend, den er widriger finanzieller Umstände wegen nicht hat ergreifen können, nennt er nicht nur Musiker, sondern: Generalmusikdirektor.
Mit Willi Daume, dem leisen, ausdauernden Ästheten, verbindet ihn denn auch nicht nur eine gemeinsame Handball-Vergangenheit (vor und nach dem Zweiten Weltkrieg), sondern vor allem das schöne Gefühl, des vollen Vertrauens eines so feinen Herrn gewürdigt und von diesem obendrein dringend gebraucht zu werden. Perrey ist zur Stelle. Wenn Daume sagt: »Heitere Spiele«, dann sorgt Perrey dafür, das es gefälligst auch dann noch heiter zugeht, wenn es eigentlich gar nichts mehr zu lachen gibt.
Zum Beispiel hielt er während der Eröffnungsfeier am Marathontor ein paar Münchner Dackel einsatzbereit, die mit Leibchen in den Farben des Olympia-Waldis ausgerüstet und darauf vorbereitet worden waren, etwaige Demonstranten aus dem Stadion zu bellen. Oder: Hätten Black-Power-Leute unter den Athleten sich während des Einmarsches protestierend niedergelegt, so hätte Perrey buntbemalte Schubkarren zu ihrem Abtransport aufbieten können und sie schlimmstenfalls über lustige Rutschen in den Reportergraben kippen lassen.
Das alles ist nicht nötig gewesen. Und den Eventualitäten, die tatsächlich eintreten, seit die Spiele ein paar Tage alt sind, kann so heiter schon deshalb nicht begegnet werden, weil niemand auf sie gefaßt gewesen ist.
Es stellt sich zum Beispiel heraus, daß die vorherberechneten Zeitpläne vieler Wettkämpfe in der Leichtathletik nicht zu halten sind, daß also einige der auf den Eintrittskarten angegebenen Anfangszeiten auf gut Glück geändert werden müssen, weil sonst abströmende und neu zuströmende Stadionbesucher in lebensbedrohende Kollisionen geraten könnten. Es stellt sich ferner heraus, daß die sowieso meist überfüllten Ehrengastbereiche in den Sporthallen von Leuten frequentiert werden, die da eigentlich nichts verloren haben; die Hostessen und anderes OK-Personal die knappen Presseplätze blockieren; daß überhaupt das Ausweis-System keineswegs gegen Mißbrauch und Fälschung sicher ist; daß selbst Siegerehrungen oft nicht protokollgemäß abgehalten werden, weil das Protokoll sich nicht richtig darum kümmert.
Seither ist auch Siegfried Perrey meistens vor Ort und so gut wie gar nicht mehr in seiner Olympia-Leitzentrale – es sei denn, hoher Besuch kommt und bestaunt die vielen Monitoren. Sonst durchmißt Perrey, obwohl er den Einfall, man brauche so einen Leitstand unbedingt, noch immer für sich reklamiert, den »Exekutivraum« mit schnellen Schritten auf dem Weg zum Empfangsraum, wo die zu später Stunde einberufenen Problemsitzungen der Abteilungsleiter stattfinden.
Hier wird Olympia dirigiert. Hier fallen die Entscheidungen. Hier wird sogar in der Nacht von Donnerstag auf Freitag letzter Woche, während die Sportnation Heide Rosendahls Goldmedaille feiert, eine ziemlich turbulente Manöverkritik-Sitzung veranstaltet, die selbst Willi Daume mit dem für seine Verhältnisse eher drohenden Ruf »Mein lieber Mann!« betritt und in der immer wieder das Wort »Katastrophe« fällt, obwohl es doch gar keine gegeben hat.
Zwei Türen weiter meldet die Olympia-Leitzentrale weiterhin »Normalverlauf« auf großen grünen Tafeln und auf mindestens einem Dutzend Monitoren – eindrucksvoll, emsig, fortschrittlich, aber letztlich zweckfrei: eine Art Spielstraße der Organisation.