Interview "Als Schauspieler darf dir nichts peinlich sein"
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Sie haben sich 1993 an der Schauspielschule Bochum beworben. Insgesamt elf von 1000 Kandidaten wurden angenommen - einer davon waren Sie. Wie muss man sich als Laie die Bewerbungsprozedur vorstellen?
Andreas Pietschmann: In der ersten Runde präsentiert man einer kleineren Kommission zwei der üblicherweise drei Rollen, die man einstudiert hat. In der zweite Runde war in Bochum bereits das gesamte Kollegium von 15 Lehrern versammelt, um die Anwärter zu begutachten. Wer hier überzeugen konnte, kam in die nächste Runde, in der man buchstäblich auf Leib und Seele getestet wurde: Körperarbeit, Stimme, Darstellungs- und Einfühlungsvermögen wurden hier ebenso in Augenschein genommen wie Flexibilität und Phantasie in der Umsetzung von Rollen.
SPIEGEL ONLINE: Die Lehrkräfte arbeiten also schon während der Bewerbungsphase intensiv mit den zukünftigen Schauspielern.
Pietschmann: Sicher, in Bochum wurde anhand der einstudierten Rolle ein richtiges Szenenstudium unternommen. Da wird getestet, ob man in der Lage ist, von der eigenen Interpretation abzugehen und sich auf Impulse von außen einzulassen. Auch Vielseitigkeit ist hier gefragt - die Lehrer wollen wissen, wie facettenreich jemand ist. Wenn diese Hürde genommen ist, hat man es unter die ersten acht geschafft.
SPIEGEL ONLINE: Wie gerecht kann so eine Entscheidung für oder gegen einen angehenden Schauspieler sein?
Pietschmann: Wissen Sie, das ist ja ein insgesamt verächtlicher Prozess, mit dem wir es da zu tun haben. Wenn 1000 Anwärter geprüft werden und zehn es am Ende schaffen, darf man nicht vergessen, dass es sich dabei um eine subjektive Entscheidung handelt. Es gibt in unserem Beruf keine objektiven Kriterien, keinen Numerus clausus oder irgendwelche auswertbaren Tests, welche die Qualität eines Schauspielers beziffern könnten. Mit dieser Subjektivität muss man leben können.
SPIEGEL ONLINE: Gesetzt den Fall, man hat es geschafft, wie sieht die Ausbildung aus?
Pietschmann: Die klassische Bühnenausbildung hat klar umrissene Inhalte, die von allen Schülern absolviert werden müssen. Stimme, Sprechen, Musik, Darstellen, Tanz, Ballett und Musical gehören ebenso dazu wie Judo, Kämpfen oder Fechten. Zwar gibt es an den verschiedenen Schulen Schwerpunkte, wie in Bochum zum Beispiel die Arbeit mit Masken. Die Standardfächer müssen aber immer belegt werden.
SPIEGEL ONLINE: Welche Voraussetzungen sollte ein Aufnahmeprüfer an einer Schauspielschule mitbringen?
Pietschmann: Er braucht vor allem ein großes pädagogisches Einfühlungsvermögen. Die jungen Leute kommen ja roh und ungeschliffen wie Diamanten zur Aufnahmeprüfung - nicht alles, was sie machen, ist gut. Die Aufgabe des Prüfers besteht darin, das Potenzial dahinter zu erkennen, zu spüren, ob man eine Begabung mit den bestehenden Ausbildungsschwerpunkten weiterentwickeln und ausbauen kann. Er muss zudem einschätzen können, wieviel Flexibilität und Phantasie der Einzelne mitbringt, denn diese Fähigkeiten erleichtern die spätere Arbeit sehr.
SPIEGEL ONLINE: Wie steht es um das Verantwortungsbewusstsein der Lehrer und Prüfer?
Pietschmann: Es gibt durchaus Menschen, die auf Grund einer falsch verstandenen Pädagogik und zu großer Härte mehr kaputt machen als sie kreieren. Bei aller Durchsetzungskraft, die man in diesem Beruf wirklich braucht, muss der Schüler aber immer wissen, dass jemand an ihn glaubt. Ich hatte einmal einen Regisseur, der so hart mit mir umgegangen ist, dass ich mich oft gefragt habe, ob ich das mit mir machen lassen muss. Ich wusste aber immer, dass er das nur tut, weil er an mich glaubt und etwas aus mir rausholen will - und dieses Gefühl ist ausschlaggebend, wenn man etwas lernen will.
SPIEGEL ONLINE: Was sollten die angehenden Schauspielschüler bei der Vorbereitung auf das Vorsprechen bedenken?
Pietschmann: Die Ansprüche sind sehr unterschiedlich: Manche Schulen wollen möglichst ungeschliffene Talente, andere begrüßen Anwärter, die sich intensiv vorbereitet haben und viel mitbringen. Ich glaube, dass es immer von Vorteil ist, sich nicht zu sehr auf die eigene Interpretation der Rolle zu versteifen. Man sollte die einstudierte Rolle als Angebot verstehen und immer bereit sein, sofort davon abzugehen, wenn dies gewünscht ist. Für die Prüfer ist das ein entscheidendes Kriterium für die Flexibilität des Schülers. Natürlich sollte man auch versuchen, möglichst viele verschiedene Seiten von sich zu zeigen - also auf keinen Fall drei Liebhaber oder drei komische Rollen spielen.
SPIEGEL ONLINE: Wie wichtig sind Enthusiasmus und Leidenschaft?
Pietschmann: Große Begeisterung und Offenheit sind außerordentlich wichtig, aber die kann man sich ja nicht vornehmen. Mir hat geholfen, dass ich nicht seit meinem 15. Lebensjahr darauf fixiert war, Schauspieler zu werden - ich hatte auch andere Optionen. Das hat mir für die Prüfungssituation eine größere Gelassenheit gegeben.
SPIEGEL ONLINE: Sie waren unlängst in dem Sat.1-Zweiteiler "Der Tanz mit dem Teufel" zu sehen und haben neben Ihrer Theaterarbeit in deutschen Filmkomödien wie "Sonnenallee" oder "Echte Kerle" geglänzt. Was unterscheidet Castings bei Film und Fernsehen von den Vorsprechen am Theater?
Pietschmann: Die Leute im Theater nehmen sich erfahrungsgemäß mehr Zeit für ein Vorsprechen als TV- oder Film-Caster. Häufig kommt es bei Fernsehproduktionen allerdings gar nicht erst zum Casting, weil die Rollen anhand von Videos besetzt werden, auf denen die Schauspieler sich und ihre Arbeit präsentieren. Kommt es doch zu einem Vorstellungstermin wirst du in einen kalten Raum geschickt, musst dich vor eine blaue Wand stellen und gegebenenfalls ein sprachlich kompliziertes Liebesgeständnis aus dem 18. Jahrhundert aus dem Hut zaubern. Dann heißt es erst einmal Danke schön und Tschüss, bis man wieder etwas hört - oder auch nicht. Der ganze Ablauf ist eben Teil einer großen Maschinerie. Bei Film und Fernsehen spielen Äußerlichkeiten zudem eine wesentlich größere Rolle als am Theater: Da werden Typen gesucht wie der gut aussehende Blonde oder der pummelige kleine Dicke.
SPIEGEL ONLINE: Wenn das Vorsprechen zum Vorspielen wird, können Castings allerdings richtig Spaß machen. Für Sönke Wortmanns geplantes "Wunder von Bern" sind Sie mit vielen anderen Bewerbern auf den Bolzplatz gegangen.
Pietschmann: Ja, das war witzig. Wortmann will einen Film über die deutsche Nationalmannschaft machen, die 1954 in der Schweiz unerwartet Weltmeister wurde. Letzten Sommer hat er ein Casting anberaumt, bei dem die Mannschaftsmitglieder ausgesucht werden sollten. Von den 80 Leuten waren rund 70 richtige Fußballer, die ein bisschen schauspielern können und zehn Schauspieler, die in der Lage sind, vernünftig zu kicken. Über 1000 hatten sich beworben, per Foto wurde zunächst nach Ähnlichkeit mit den wirklichen Fußballhelden ausgesucht. Auf zwei Tage verteilt haben wir dann jeder gegen jeden gespielt, begleitet von Kameras rund ums Spielfeld. Die Auswertungen des Castings stehen wohl kurz vor dem Abschluss, wir dürfen gespannt sein.
SPIEGEL ONLINE: Haben Sie bei einem Casting schon mal total versagt?
Pietschmann: Ich habe mich mal für eine Rolle in einem Mittelalterfilm beworben. Der Protagonist war so eine Figur irgendwo zwischen Flash Gordon und Robin Hood. Ich sollte also in einem zentnerschweren, spitz zulaufenden und stark klappernden Kettenhemd auf meinem Ross bis zu einer Markierung reiten, dort anhalten und meinen Text aufsagen. Ich weiß nicht, ob das Pferd mehr Angst vor mir oder dem scheppernden Kettenhemd hatte - auf jeden Fall scheute es permanent und rannte immer wieder aus dem Bild, so dass mein Auftritt ein ziemlich unrühmliches Ende fand. Man hat mich nicht genommen.
SPIEGEL ONLINE: Peinlich?
Pietschmann: Als Schauspieler darf dir nichts peinlich sein - Eitelkeit und die Angst, dumm oder hässlich zu wirken, stehen dir bei der Arbeit nur im Weg. Du musst halt hart im Nehmen sein.
Das Interview führte Annette Langer